Die Flüchtlingskrise hat Deutschland spürbar verändert. Noch nachhaltiger wird es die Coronakrise tun. Den politischen Kurs gibt damals wie heute Bundeskanzlerin Angela Merkel vor. Ihre Rolle habe sich geändert, sagt Psychologe Stephan Grünewald. Und doch ist sie die "Mutter der Nation" geblieben.
Im September 2015 begann in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit die sogenannte Flüchtlingskrise. Fünf Jahre später analysiert der Psychologe und Bestsellerautor Stephan Grünewald die Folgen und zieht Vergleiche zur Coronakrise.
Wie prägend war die Flüchtlingskrise von 2015?
Grünewald:
Wie beurteilen Sie heute die Rolle von Bundeskanzlerin
Bis zum September 2015 war sie die Hüterin eines abgeschotteten deutschen Wohlstandsparadieses. Dann wurde sie plötzlich zum Willkommensengel, und viele fragten sich: Wen liebt "Mutter Merkel" mehr: die eigenen Kinder oder die fremden? In der Coronakrise ist Merkel nun wieder stärker der nationale Schutzengel, der zu Besonnenheit aufruft und klare Maßnahmen einfordert. Mit dem Lockdown setzte sie darauf, dass wir die Türen schließen und uns im Dienst der Gesundheit abschotten. Da ist sie also eher wieder die Merkel von vor der Flüchtlingskrise. Sie hat die Raute als Sinnbild einer fürsorglichen Umgrenzung reaktiviert und tritt erneut als ebenso sorgsame wie strenge Mutter der Nation in Erscheinung.
Eine Silvesternacht kippt die Willkommens-Stimmung in Deutschland
Damals kamen mehr als eine Million Menschen nach Deutschland. Welche Sicht auf sie dominiert heute?
Anfangs hatten wir ja die Willkommenseuphorie: die Deutschen einmal nicht als Fremdenfeinde, wie so oft in der Geschichte, sondern als Freunde, die Hilfesuchenden die Hand reichten. Diese Willkommensbilder besaßen eine enorme mediale Kraft und überdeckten zunächst die von Anfang an bestehenden Vorbehalte in Teilen der Bevölkerung. Insbesondere nach der Kölner Silvesternacht wurden die Flüchtlinge dann nicht nur als Opfer, sondern auch als potenzielle Täter gesehen. Sie wurden zeitweise zur Projektionsfläche für all das Unheil, das von außen in unser wohl behütetes deutsches Auenland einbrechen könnte. Jetzt gewinnen wir angesichts der relativierenden Kraft des Alltags und des Zusammenlebens ein realistischeres und differenzierteres Bild. Die Zuwanderer sind völlig unterschiedliche Menschen, die man nicht pauschal feiern oder verurteilen kann. Die einen haben in Windeseile Deutsch gelernt und studieren jetzt schon oder stehen im Beruf, andere sind in die Kriminalität abgedriftet.
Haben sich diejenigen, die damals gegen die Aufnahme von Flüchtlingen waren, mittlerweile wohl mehrheitlich damit abgefunden?
Dass diese Menschen damals ins Land gelassen wurden, hat vor allem jene gekränkt, die sich nicht genügend wertgeschätzt fühlen und das Gefühl haben, dass andere bevorzugt werden. "Der Syrer ist mehr wert als der Sachse", sozusagen. Diese Polarisierung schwelt weiter, und ist jetzt in der Coronakrise wieder neu zum Vorschein gekommen.
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