Die EU hat sich auf eine Verschärfung ihrer Asylpolitik geeinigt. Bereits jetzt zeigt die harte Politik gegen private Seenotretter Wirkung: Schiffe dürfen Häfen nicht verlassen, ein Flugzeug einer deutschen Organisation wird aufgehalten. Der Kieler Seerechtsexperte Uwe Jenisch sieht die Helfer in einer schwierigen Situation.
Seit 2015 sind private Seenotretter, zum Beispiel Sea-Watch oder Ärzte ohne Grenzen, auf dem Mittelmeer im Einsatz. In letzter Zeit werden die Helfer verstärkt an ihrer Arbeit gehindert.
Nach der Blockade von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer ist nun auch ein Aufklärungsflugzeug einer deutschen Hilfsorganisation festgesetzt worden. Die Behörden in Malta hätten ab sofort alle Flüge in das Rettungsgebiet vor Libyen untersagt, teilte die Berliner Organisation Sea-Watch mit. Ihr Schiff "Sea Watch 3" darf derzeit auch nicht auslaufen.
Welche rechtlichen Grundlagen gelten für die Seenotrettung? Darüber haben wir mit dem Kieler Seerechtsexperten Uwe Jenisch gesprochen.
Herr Jenisch, wie ist rechtliche Situation, in der sich die Hilfsorganisationen – sogenannte NGOs – befinden, die im Mittelmeer Geflüchtete retten wollen?
Uwe Jenisch: Das ist eine Gemengelage von altem Seerecht, neuem Seerecht, Völkerrecht, Menschenrechtsfragen, Flüchtlingsrecht und europäischem Recht. Das ist nur schwer zu lösen.
Man muss anerkennen, dass NGOs humanitäre Leistungen erbringen, wo andere versagen. Man muss aber auch festhalten, dass der Rechtsrahmen für NGOs Schwachstellen hat und dass es da Grauzonen gibt und Missverständnisse.
Welche völkerrechtlichen Regeln gibt es für die Seenotrettung?
Es gibt das Seerechtsübereinkommen (SRÜ) der Vereinten Nationen, das 1994 in Kraft getreten ist und das weltweit angewendet wird. Der Artikel 98 regelt die Pflicht zur Hilfeleistung auf See.
Das heißt, werden Menschen auf See in Lebensgefahr angetroffen, ist Hilfe zu leisten. Die Pflicht zu retten, trifft alle. Kriegsschiffe, Handelsschiffe – sie alle stehen in der Verantwortung, Ausschau nach Schiffbrüchigen zu halten und sie zu retten.
Außerdem heißt es in Artikel 98 Absatz 2, dass die Staaten einen wirksamen Such- und Rettungsdienst, Search and Rescue, einrichten müssen. Das betrifft alle Küstenstaaten, die an das Meer grenzen. Sie sollen dabei mit ihren Nachbarstaaten zusammenarbeiten.
Wer entscheidet, wer retten darf und wer nicht?
Für das zentrale Mittelmeer ist die italienische Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom zuständig. Sie entscheidet, welches Schiff wo rettet. Für die eigenen Hoheitsgewässer muss jeder Staat selber die Rettung organisieren. Das heißt zum Beispiel für Libyen, mindestens bis zur Zwölf-Meilen-Grenze.
Passen die Regeln zur Seenotrettung überhaupt zur aktuellen Katastrophenlage?
Nein, rein rechtlich ist man für solche Situationen überhaupt nicht vorbereitet. Als man das Recht zur Hilfeleistung auf See in den 1970er und 1980er Jahren in der UNO aushandelte, dachte niemand an Flüchtlingsströme mit tausenden von Menschen. Da ging es um Situationen, die man aus der Schifffahrt kannte – Schiffsunglücke, kleinere Unfälle, gekenterte Segelboote, Schiffbrüchige.
Jetzt hat man es mit einer Völkerwanderung über See zu tun. Man könnte eine Revision des Seerechtsübereinkommens verlangen. Das würde aber Jahre dauern.
Den NGOs wird vorgeworfen, dass sie Migration begünstigen. Wie sehen Sie das?
Die NGOs beteiligen sich an Rettungsaktionen, die im Grunde einen Trend zur Völkerwanderung haben. Es sind im zentralen Mittelmeer zirka zehn NGOs mit mindestens 15 Schiffen tätig, weil sie der Meinung sind, dass die staatliche Rettung nicht gut genug funktioniert.
Als die NGOs noch nicht da waren, mussten die Schleuser mit ihren unzulänglich ausgerüsteten Schiffen die Flüchtlinge über hunderte von Meilen bis nach Italien oder Griechenland bringen. Jetzt reicht es, einen Flüchtling als Bootssteuerer zu bestimmen, der bis zur Hoheitsgrenze fährt. Die Retter warten ja schon.
Dies weisen die NGOs ausdrücklich zurück …
Ja, aber es ist so, dass sich die NGOs der libyschen Küste nähern und in den kritischen Gewässern präsent sind. Die Schleuser brauchen nicht mehr so weit zu fahren. Sie brauchen keine Kapitäne mehr auf ihren Schlauchbooten, und sie schicken alle ins Ungewisse.
Das Geschäftsmodell der Schleuser hat sich also deutlich verbessert und die lebensgefährlichen Transporte haben zugenommen. Das ist mafiös. Die kriminellen Schleuser bleiben an Land und sind nicht zu fassen. Italien vertritt die Ansicht, dass die NGOs die lebensgefährlichen Bootstransporte zusätzlich anreizen.
Die Schleusertätigkeit ist deutlich durch die Möglichkeit, nur noch zwölf Seemeilen fahren zu müssen, belebt worden. Beweise, dass die NGOs mit den Schleuserorganisationen aktiv zusammenarbeiten, gibt es meines Wissens aber nicht. Was tatsächlich vor Ort geschieht, lässt sich von hier aus nicht beurteilen.
Ist rechtlich geregelt, wohin die Geretten gebracht werden?
Das ist nicht geregelt. Meist wird behauptet, es sei in den nächsten sicheren Hafen einzulaufen. Aber welcher das ist, ist nirgends vorgegeben. Betrifft es etwa ein Schiff in der Nähe Libyens, wäre dort eigentlich der nächste sichere Hafen. Man könnte die Flüchtlinge also die zwölf Seemeilen zurückbringen. Da sind sie wieder an Land und nicht mehr in Gefahr zu ertrinken.
Die NGOs argumentieren, dass Libyen ein unsicheres Land sei ...
Das dürfte zutreffend sein. Aber die Migranten würden zumindest nicht ertrinken.
Auf welcher Grundlage wird dann festgelegt, wohin die geretteten Flüchtlinge kommen?
Die Weltschifffahrtsorganisation IMO hat 2004 eine Richtlinie mit Empfehlungscharakter über die Behandlung von Personen, die auf See gerettet werden, erlassen. Die "Guidelines on the treatment of persons rescued at sea" besagen, dass der Staat, der die Seenotrettung organisiert, die primäre Verantwortung hat für die Koordination und Kooperation. Da Italien für das zentrale Mittelmeer zuständig ist und den Überblick über die Lage auf See hat, entscheidet die italienische Leitstelle je nach konkreter Lage, wer tätig werden soll und welcher Hafen anzulaufen ist. Theoretisch könnte dieser auch in Libyen sein.
Nun trägt Italien seit Jahren selbst die Hauptlast. Wieso?
Italien hat versucht, Vereinbarungen mit den Nachbarstaaten zur Lastenteilung zu treffen – ist aber immer gescheitert. Und auch Europa hat mit seiner Flüchtlingspolitik weitgehend versagt. Die Italiener haben 2017 notgedrungen einen Verhaltenskodex herausgegeben und den NGOs vorgelegt.
Demnach sollen diese sich aus den Küstengewässern Libyens heraushalten, weil die Küstenwache des Landes dort zuständig ist und mit Millionenbeträgen aus Europa aufgebaut wird. Außerdem enthält der Kodex ein Verbot, mit den Schleusern zu kommunizieren.
Personen dürfen zudem nicht von einem Rettungsschiff auf ein anderes gebracht werden. Und es wird gefordert, mit den Italienern zusammenarbeiten und die Transponder nicht abzuschalten. Doch nur wenige Hilfsorganisationen haben diesen Kodex unterschrieben. Die Frustration der Italiener über die Gesamtsituation, die sich mittlerweile Bahn bricht, ist verständlich.
Es gibt NGO-Schiffe, die von EU-Staaten am Auslaufen aus den Häfen gehindert werden – mit der Begründung: "Der Status wird überprüft". Ist das rechtens?
Jeder Hafen darf Schiffe, die einlaufen, auf Einhaltung internationaler Sicherheitsstandards kontrollieren. Das machen die Italiener auch mit den NGO-Schiffen.
Sie prüfen die Lizenzen. Sie schauen, ob der Kapitän wirklich ein Kapitän ist. Hat der ein gültiges Patent? Stimmt die Ausrüstung des Schiffes? Sind genug Rettungsmittel an Bord? Sind die Transponder ständig eingeschaltet? Werden die hygienischen Bestimmungen eingehalten?
Als Druckmittel?
Sie wollen die private Seenotrettung entweder stärker in die Rettungskette einbinden oder sie gleichsam "vergrämen", mit dem Ziel, dass nur noch die staatliche Seenotrettung übrigbleibt. Natürlich müssen dann immer noch Handels- und Kriegsschiffe sowie Kreuzfahrtschiffe im Falle von Seenot Flüchtlinge aufnehmen. Das bleibt.
Können Länder ohne Weiteres ihre Häfen geschlossen halten?
Es gibt als Ultima Ratio immer noch das sogenannte Nothafenrecht. Das heißt zum Beispiel, ein mit Flüchtlingen überladenes Schiff – darunter Frauen, Babys, Sterbende, Kranke –, das nicht weiß, wohin es soll, kann einfach in einen Hafen einlaufen. Es gibt da zwar Ermessensspielräume auf Seiten des Ziellandes, aber das Nothafenrecht bleibt als letzter Rettungsanker.
Die Länder prüfen auch, unter welcher Flagge ein Schiff fährt, wo es registriert ist. Was bedeutet es, wenn ein Rettungsschiff staatenlos ist?
Schiffe, die offenbar staatenlos und in keinem Staat offiziell registriert sind und die keinem "Schiffs-TÜV" unterworfen sind, dürfen auf See angehalten und durchsucht werden. Allerdings dürfen sie immer noch das Nothafenrecht für sich in Anspruch nehmen. Der kontrollierende Staat darf das Schiff aber festsetzen, auch einziehen und versteigern. Man kann es auch wieder fahren lassen, wenn es sich registrieren lässt.
Ist ein staatenloses Schiff rechtlos?
Nein. Es gilt immer humanitäres Recht. Aber es kann rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
Wie bewerten Sie die Position der NGOs?
Die NGOs behaupten von sich mit einem gewissen Recht, dass sie die einzigen sind, die die humanitären Grundsätze hochhalten und die Lücke füllen, weil die staatlichen Hilfen versagen. Das ist ein starkes Argument. Es ist ein Vorwurf an die EU, in der Flüchtlingsfrage insgesamt versagt zu haben. Dahinter steht der Appell, dass die Politik gefordert ist, diese unhaltbaren Zustände auf See zu beenden.
Was kann die Politik, was muss die Politik tun?
Man muss in den Herkunftsländern der Flüchtlinge die Ursachen bekämpfen und gleichzeitig Rückführungsabkommen schließen. Man muss zum Beispiel Libyen demokratisch aufbauen und administrativ stärken, damit es die Aufgaben selber lösen kann. Man könnte auch über eine leistungsfähige Europäische Küstenwache nachdenken und vermehrt staatliche Schiffe und Flugzeuge einsetzen, um die Situation auf See flächendeckend zu kontrollieren. Das würde sehr viel Geld kosten.
Kann FRONTEX da weiterhelfen?
Es gibt mittlerweile eine EU-Richtlinie, die die Staaten der EU auffordert, Aufnahmehäfen vorzusehen, die Rücksendung der Flüchtlinge in Ausgangshäfen zu organisieren und notfalls einen Nothafenplatz zur Verfügung zu stellen. Das steht mit weichen Formulierungen in der EU-Verordnung zur Errichtung von FRONTEX von 2014. Aber das sind auch wieder nur Bemühungsklauseln, wenn auch Tendenzen erkennbar sind, FRONTEX besser mit Personal und Schiffen auszustatten.
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