• Das Gas in Deutschland wird knapper, die Energiepreise steigen. Experten besorgt besonders der Blick auf den kommenden Winter.
  • Werden die Deutschen frieren müssen? Reicht das Gas für alle Branchen? Und: Wieso haben wir uns gerade von russischem Gas so abhängig gemacht?
  • Gas-Experte Niko Bosnjak gibt im Interview mit unserer Redaktion Antworten.
Ein Interview

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Herr Bosnjak, wie steht es aktuell um die Versorgung mit Gas in Deutschland?

Niko Bosnjak: Im Moment ist die Versorgungslage nicht schlecht, es ist ausreichend Gas da, auch die Speicher werden befüllt. Das Gas kommt auch aus anderen Quellen abseits von Russland zu uns. In einem normalen Jahr würde man sagen, dass das Niveau der Speicher etwas niedrig, aber noch in Ordnung ist.

Aber wir befinden uns nicht in einem normalen Jahr?

Genau, das Problem ist der Ausblick. Wir befinden uns nicht in einer unmittelbaren Gefahr, aber wenn wir davon ausgehen, dass das Niveau der russischen Lieferungen so gering bleibt oder sogar noch weiter sinkt, dann wird es im Winter weniger Gas als in den letzten Jahren geben. Darauf müssen wir uns möglichst frühzeitig vorbereiten. Vor allem die Bundesregierung muss entscheiden, welche Konsequenzen wir jetzt schon über den Sommer ziehen müssen, um für den Winter vorzusorgen. Wir müssen uns gut überlegen, wo wir das Gas im Winter einsetzen, damit es am Ende reicht.

Volle Gas-Speicher lösen das Problem nicht

Warum ist Deutschland denn überhaupt so abhängig von russischem Gas?

Das ist eine historische und politische Entwicklung gewesen. Russland hat in der Vergangenheit zu günstigen Konditionen Gas angeboten. Die Händler haben ihr Gas dort eingekauft und teilweise langfristige Verträge abgeschlossen. Russland hat deshalb im Verhältnis zu anderen Lieferanten einen großen Anteil ausgemacht.

Was muss man denn über die Funktionsweise des deutschen Gasnetzes wissen?

Es gibt in Deutschland 16 Gasnetzbetreiber, die sogenannte Fernleitungen betreiben und Gasmengen aus dem Ausland übernehmen. Sie haben an Grenzübergangspunkten Verbindungen ins Ausland, etwa nach Norwegen. Auf dieser Fernleitungsebene wird das Gas per Transit entweder weiter ins Ausland transportiert oder innerhalb Deutschlands zu Kunden. Das sind vor allem Stadtwerke und große Industrieunternehmen. Auf der Verteilebene bringen die Betreiber das Gas über ihr Netz zum Endverbraucher.

Warum nutzen denn selbst volle Gasspeicher nichts, um das Problem zu lösen?

Ganz einfach: Deutschland hat jährlich einen Verbrauch von 1.000 Terawattstunden an Erdgas. Der gesamte Energieverbrauch, also auch durch Kohle, Öl und Strom, liegt bei 2.500 Terawattstunden. Der Anteil von Gas ist also sehr groß. Die Speichermöglichkeiten in Deutschland stellen wiederum ungefähr 240 Terawattstunden dar. Selbst, wenn sie also voll sind, kann der Verbrauch eines Jahres nicht abgedeckt werden. Es bleibt wichtig, dass wir über das Jahr verteilt Gaslieferungen bekommen. Die Speicher sind vor allem dann wichtig, wenn es im Winter kälter wird und das Gas schnell dorthin gebracht werden muss, wo es benötigt wird.

Wie wahrscheinlich ist es, dass wir im Winter frieren müssen?

Dazu kann ich keine Prognose treffen. Wir sind nur Transporteure, in die Planung der Händler sind wir nicht involviert. Wir erfahren tagesaktuell, was transportiert werden soll. Eine Gesamtsicht auf das System haben wir nur mit Blick auf die Vergangenheit. Deshalb kann ich auch nicht sagen, ob Deutschland eine Gaspreisexplosion bevorsteht. Wir transportieren das Gas unabhängig vom Preis. Ich kann aber sagen: Jeder kann dabei helfen, Gas einzusparen. Es ist sinnvoll, sich mit seiner Heizung auseinanderzusetzen und sie so einzustellen, dass sie möglichst wenig Energie verbraucht. Das kann zum Beispiel durch Herunterregeln der Temperatur oder einen hydraulischen Ausgleich passieren.

Gibt es Alternativen zum Gas?

Könnte man nicht einfach auf das Gas bei der Stromerzeugung verzichten?

Dazu hat die Bundesregierung bereits ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem etwas sperrigen Namen Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz. Dieses sorgt dafür, dass die Bundesregierung in Notfallsituationen den Einsatz von Erdgas in Kraftwerken zur Stromerzeugung vermindern kann. Es gibt also bereits die entsprechenden Mittel, um den Anteil von Gas an der Stromerzeugung zu verringern.

EU-Parlament billigt Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig

Im EU-Parlament ist eine Initiative gescheitert, die sich gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig ausgesprochen hat. Vor allem Frankreich und Deutschland hatten sich für die sogenannte Taxonomie-Verordnung eingesetzt.

Gibt es denn auch Herausforderungen bei der Gasspeicherung?

Technisch gibt es keine Herausforderung, die Speicher sind alle verfügbar und werden regelmäßig gewartet. In Bezug auf den Winter stellt sich aber die Frage, ob wir sie ausreichend gefüllt bekommen, weil ein Hauptlieferant uns mit weniger Gas beliefert. Schaffen wir es, die Speicher so voll zu bekommen, dass wir gut durch den Winter kommen? Aktuell ist keine Heizperiode, wir haben Sommer und entsprechende Temperaturen. Gas ist ein saisonaler Energieträger und wird hauptsächlich im Winter verbraucht. Wir müssen darauf achten, dass wir einspeichern und uns eine Strategie zurechtlegen, gut durch den Winter zu kommen.

Über den Experten:
Dr. Niko Bosnjak leitet die Abteilung Kommunikation und Energiepolitik bei der Open Grid Europe. Das Unternehmen ist Fernleitungsnetzbetreiber für Erdgas und betreibt in Deutschland das größte Ferngastnetz mit einer Länge von rund 12.000 Kilometern.
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