Am Samstag (26.10) wählt Georgien ein neues Parlament. Die Wahl gilt als Schicksalswahl, denn sie entscheidet über den künftigen Kurs der ehemaligen Sowjetrepublik. Wird sich Georgien Richtung Russland oder Richtung EU orientieren? Der georgische Politikwissenschaftler Mikheil Sarjveladze ordnet die Lage kurz vor der Wahl ein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wenn sich Opposition und Regierung in Georgien in einer Sache einig sind, dann wohl darin: Die Wahl am Samstag (26.10.) ist eine Schicksalswahl. Sie steht unter der Überschrift: Ost oder West, Russland oder Europa – welche Richtung wird Georgien einschlagen?

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Rund 3,5 Millionen Wahlberechtigte sind am Samstag zur Parlamentswahl aufgerufen. Bereits im Vorfeld sind tausende Menschen auf die Straße gegangen. In Tiflis demonstrierten die Bürger der ehemaligen Sowjetrepublik unter dem Motto "Georgien wählt die Europäische Union" und schwenkten Fahnen der EU.

Regierungspartei liegt vorn

In aktuellen Umfragen liegt allerdings die Regierungspartei "Georgischer Traum" mit 41,6 Prozent vorn, die eine ambivalente Position gegenüber der EU vertritt. Bei der Wahl 2020 war sie auf 48,2 Prozent der Stimmen gekommen.

In den Umfragen folgen die Mitte-Rechts Partei "Einheit zur Rettung Georgiens" (Unity) mit 15,3 Prozent und die liberale Partei "Koalition für den Wandel" (CfC) mit 14,5 Prozent der Stimmen. Eine Koalition ohne die Regierungspartei wäre daher nur mit Hinzunahme der Mitte-Links-Parteien "Für Georgien" (ForGeo) und "Starkes Georgien" (SG) möglich, also einer Viererkonstellation.

Historische Wahl

Der georgische Politikwissenschaftler Mikheil Sarjveladze beobachtet die Situation seines Heimatlandes ganz genau. "Die Stimmung ist angespannt, viele Menschen haben Angst", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn die Wahlen würden über die Zukunft des Landes für die kommenden Jahrzehnte entscheiden. "Es ist eine Schicksalswahl", so Sarjveladze. Es sei nicht absehbar, wie es nach der Wahl weitergehe und ob es friedlich bleibe.

"Die Menschen im Land unterstützen mehrheitlich die EU-Integration des Landes, doch dieser Wille wird von der Regierung sabotiert", sagt Sarjveladze. Die Regierungspartei schüre Angst mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, präsentiere die Ukraine und den Westen als "Globale Kriegspartei" und sich selbst als Friedensstifter und Garant für keinen Krieg in Georgien.

Beziehung zur EU liegt auf Eis

"Die Stimmung in der Gesellschaft ist dadurch sehr gespalten", so der Experte. Zum Teil verfange die Propaganda der Regierung, schließlich habe die georgische Gesellschaft schmerzhafte Erfahrungen mit Russland gemacht und sei dafür besonders empfindlich.

2014 hat Georgien ein Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen und wurde Ende 2023 Beitrittskandidat. Die EU hat diesen Status im Juni dieses Jahres allerdings wieder auf Eis gelegt: Denn der "Georgische Traum" setzt sich zwar für vertiefte wirtschaftliche Beziehungen mit der EU ein, steht aber für fehlende Reformen im Bereich Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in der Kritik.

Wichtigste Frage des Wahlkampfs

"Die geopolitische Ausrichtung Georgiens ist die wichtigste Frage des Wahlkampfs", sagt Sarjveladze. Offiziell war die Regierungspartei vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine für eine Annäherung an Europa. Es scheint, als wolle sich die Partei nun von den westlichen Partnern abwenden und sich Russland annähern. Viele hätten Angst, dass Georgien einen ähnlichen Weg wie Belarus – eine, russischen Satellitenstaat – einschlagen könnte.

Als Beleg für ihre Befürchtung ziehen viele Oppositionelle das sogenannte "Agentengesetz" heran. Das Gesetz, welches die Zivilgesellschaft und Medien scharf kontrolliert, wurde im Mai trotz massiver Proteste und Kritik aus EU und USA beschlossen.

Russisches "Agentengesetz"

Die Bezeichnung "Agentengesetz" spielt auf ein in Russland erlassenen Gesetz gegen sogenannte "ausländische Agenten" an, welches Kritiker als Vorbild für das Gesetz in Georgien bezeichnen. Der Kreml nutzt das Gesetz seit Jahren, um die Opposition und unabhängige Medien zu unterdrücken.

"Die Stimmung gegen das Gesetz ist immer noch stark präsent in der georgischen Gesellschaft, es gehen immer noch sehr viele Menschen dagegen auf die Straße", sagt Experte Sarjveladze. Er ist sich sicher: Das Abdriften in die Richtung autoritärer Lager in dieser Welt, wozu neben Russland auch Staaten wie Iran oder China zählen, hat in Georgien längst angefangen.

Opposition ist zerstritten

"Nur wenn die Opposition gewinnt, die allerdings Schwierigkeiten hat, sich zu mobilisieren, dann wird das Land sich Richtung Europa und in Richtung einer NATO-Mitgliedschaft bewegen können", meint er. Die georgische Opposition gilt als zerstritten.

Wenn die Regierungspartei die Wahlen gewinne, werde das Land stärker autoritär werden und sich viel stärker Richtung Russland und den anderen autoritären Mächten in der Region annähern. "Georgien hat bereits eine strategische Partnerschaft mit China abgeschlossen", kommentiert er. Den internationalen Missionen, die die Wahl überwachen, käme diesmal eine besonders hohe Bedeutung zu. "Sie müssen feststellen, ob Wahlfälschungen stattfinden", sagt Sarjveladze.

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Sicherheit im Schwarzen Meer

Nicht nur für Georgien, sondern auch für die EU stehe mit der Wahl viel auf dem Spiel. "Der Transportkorridor im Südkaukasus verbindet Europa mit Zentralasien und China. Sollte die Regierungspartei in Georgien die Wahlen gewinnen, wird die EU einen wichtigen demokratischen Partner im Südkaukasus und in der Schwarzmeerregion verlieren. ", meint er.

Es stehe teilweise auch die Schwarzmeersicherheit und damit die Sicherheit der Europäischen Union auf dem Spiel, falls Georgien langfristig in die russische Kontrolle geraten sollte.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Mikheil Sarjveladze hat Politikwissenschaft in Gießen und Köln sowie Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts in Jena studiert.

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