Die AfD ist laut einer aktuellen Umfrage erstmals zweitstärkste Kraft in Deutschland. Damit lässt sie SPD und Grüne hinter sich. Sorgen die Streitigkeiten in der Ampel-Regierung für den rechtspopulistischen Aufwind? "Die Zustimmung zur AfD setzt sich aus Unzufriedenheit und sich überlappenden Krisen zusammen", sagt Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder im Interview mit unserer Redaktion. Auch äußert er sich über Versäumnisse der Union und das politische Programm der "Dagegen-Partei".

Ein Interview

Herr Schroeder, wenn nächsten Sonntag Wahl wäre, bekäme die AfD laut dem aktuellen Deutschlandtrend 18 Prozent der Wählerstimmen. Damit liegt sie auf Augenhöhe mit der Kanzler-Partei. Laut Forsa-Umfrage vom 12. Juni hat sie sogar die SPD knapp überholt und rückt damit auf Platz zwei. Liegt das am Dauerstreit der Ampel oder an der Enttäuschung über die Politik - oder was ist der Grund für den Höhenflug?

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Wolfgang Schroeder: Die Konflikte innerhalb der Ampel-Regierung halte ich für nicht so relevant, wie es teilweise jetzt dargestellt wird. Das zeigt sich auch daran, dass von den anderen Parteien zur AfD kaum Bewegung stattfindet. Die Zustimmung zur AfD setzt sich aus strukturellen und konjunkturellen Dimensionen zusammen. Die strukturellen werden durch die ideologisch Gefestigten abgebildet; bei den konjunkturellen sind es eher die Unzufriedenen, deren Haltungen sich aber auch verfestigen können. Der positive Lauf der AfD hat im August vergangenen Jahres begonnen. Damals lag die AfD noch bei zehn Prozent. Seitdem ist die Krisenhaftigkeit größer geworden, und die Bundesregierung bietet auch genügend Anlässe für die Unzufriedenen, um ihren Zorn politisch zu bestimmen. In diesen Prozessen werden auch viele Nichtwähler mobilisiert.

Können Sie das konkretisieren?

Es sind die Eingriffe in den Alltag der Leute, beispielsweise durch neue Vorgaben beim Heizen durch das neue Gesetzesvorhaben, die unzureichend kommuniziert werden. Das ist sicher stark verbesserungswürdig. Wirtschaftsminister Habeck scheint das aber verstanden zu haben, wie seine jüngsten Äußerungen über Nachbesserungen am Gesetz vermuten lassen. Ungelöste Fragen in der Zuwanderung spielen der Zornes-Politik ebenso in die Karten. Auffallend ist dabei, dass weder die FDP noch die Union in der Lage sind, diesen Protest aus der Bevölkerung zu kanalisieren und daraus eine eigene plausible Politik zu formulieren.

Bräuchte es eine Union, die mehr eigenes Profil und alternative Ansätze im Vergleich mit der AfD zeigt?

Migration ist ein komplexes Thema. Einerseits sind wir eines der Länder, das weltweit mit am meisten von der Globalisierung profitiert. Andererseits tun wir vieles, um die negativen Seiten nicht ertragen zu müssen. Trotzdem müssen die Veränderungen für alle ertragbar sein. Wenn dann aber Flüchtlingsheime in kleine Ortschaften gebaut werden, dann ist dies schon sehr schwierig. Auch wenn es vernünftig und transparent kommuniziert wird, sind da Grenzen zu berücksichtigen. Es geht auf jeden Fall nur mit Partizipation, die Menschen müssen mehr in solche Prozesse eingebunden werden.

Wolfgang Schroeder: "Zunehmend mehr Menschen nehmen eine pessimistische Sicht der Dinge ein"

Treibt auch eine immer krassere Zuspitzung die Wähler zur AfD?

Sicherlich haben sich seit Beginn des Krieges die Anforderungen an gutes Regieren sehr verändert. Einerseits müssen dringliche Maßnahmen eingeleitet werden, um die monetären und energiepolitischen Folgen des Krieges abzupuffern. Andererseits sind neben diesen Politiken der Dringlichkeit auch die wichtigen Ziele der Transformation zu bewältigen. Diese Konstellation wird von einer Veränderung der Zukunftsperspektiven begleitet: Zunehmend mehr Menschen nehmen eine pessimistische Sicht der Dinge ein. Dazu gehört teilweise auch, dass sie sich von der realen Politik unzureichend orientiert und informiert fühlen. Überlappende Krisen, eine einsetzende ökonomische Ernüchterung, die sich in neuen Verteilungskämpfen spiegelt, wie sie jetzt durch die Tarifkonflikte artikuliert werden.

Bundeskanzler Scholz nannte die AfD am Wochenende „eine Schlechte-Laune-Partei“ – und begründete die Umfragewerte mit den derzeitigen Umbrüchen. Ein wenig dünn als Begründung, oder?

Die AfD gibt der Unzufriedenheit in der Bevölkerung eine lautstarke Stimme. Dagegen scheint die Ampel für diese Unzufriedenen zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Tatsächlich fällt es der Regierung trotz vieler Gesetze und Aktivitäten schwer, eine positive Stimmung für Fortschritt, Zukunft und Transformation zu generieren und damit ihre eigenen Ziele positiv auszustrahlen.

"Das Land wird von vielen Menschen anders wahrgenommen als im Justemilieu der Regierungsparteien", twitterte CDU-Chef Merz. "Wenn die ganz normalen Leute kein Gehör mehr finden, wenden sie sich denen zu, die besonders scharf dagegen sind, ob ganz rechts oder ganz links." Ist das eine Ausrede für die Versäumnisse der Großen Koalition oder steckt darin auch ein Körnchen Wahrheit?

Einerseits hat die CDU bei allen großen Themen der sozial-ökologischen Transformation gebremst. Insofern hat sie einen gehörigen Anteil an dem Reformstau, der gegenwärtig zu beklagen ist. Von daher ist die Sicht von Herrn Merz schon problematisch. Andererseits haben die Bürgerinnen und Bürger starke Überforderungsgefühle. Das Geld wird weniger wert, die Mieten steigen, Energie ist unsicher – wir befinden uns in einem Zyklus gesteigerter Unsicherheit.

Beim Heizungsgesetz hat die Regierung ja nachgebessert. Oft wird jetzt in der Diskussion noch so getan, als ob es noch immer um den geleakten Referentenentwurf vom März ginge. Zugleich liegt es dann an der Regierung zu zeigen, dass sie so arbeitet, dass Überforderungen vermieden werden. Und das beginnt in der Kommunikation. Die Menschen, die meinen, dass strukturell alles falsch läuft, wird man allerdings auch mit einer guten Kommunikation nicht gewinnen. Aber enttäuschte Protest-Wähler schon.

"Die AfD bietet nicht einmal ansatzweise Lösungen"

Was bietet die AfD den Menschen an politischem Programm?

An politischem Programm sehr viel. Nämlich die Idee einer ganz anderen Gesellschaftsordnung und damit die Suggestion einer anderen Politik. Auf der Ebene der konkreten Politik innerhalb unseres Systems ist allerdings fast nichts anschlussfähig. Die AfD bietet nicht einmal ansatzweise Lösungen, wie Globalisierung, Transformation oder Energiewende bewältigt werden können. Die Partei hat zwar Überlegungen zu diesen Themen in ihrem Parteiprogramm – aber die sind sehr weit weg von den Möglichkeiten, die dieses Land im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich hat. Und die AfD-Ideen polarisieren; nicht zuletzt, indem vorhandene Ressentiments mobilisiert werden. Was die Partei kann, ist das Dagegensein zu organisieren und dafür lautstark zu brüllen. Sie ist und bleibt eine System-Opposition.

Der aktuelle Deutschlandtrend sei kein "Umfrageschock", sondern "eine ganz normale Reaktion in einer funktionierenden Demokratie", sagte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Was halten Sie von diesen Aussagen? Will die AfD nicht eher die Demokratie untergraben, anstatt zu korrigieren?

Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei, die mit den Mitteln der Demokratie die Demokratie untergräbt. Trotzdem kann sie auch dazu beitragen, das demokratische System resilienter zu machen. Wie bei der Heizungsreform: Das Vorhaben muss sozial, demografisch und technologisch flankiert werden. Dafür muss man mit den Menschen frühzeitig und direkt reden, um die Menschen zu erreichen, die von so einem Gesetz betroffen sind - und nicht über deren Köpfe hinweg. Zugleich ist diese Sicht auch zu einfach, denn die AfD ist ein permanenter Angriff auf das bestehende System und seine Werteordnung.

Im Deutschlandtrend gab nur ein Drittel der AfD-Anhänger an, die Partei aus Überzeugung wählen zu wollen, zwei Drittel nannten Enttäuschung über die anderen Parteien als Grund. Bleibt die AfD eine Protestpartei?

Der Zuspruch für die AfD kann andauern, weil wir gerade in einer schwierigen Phase der Umsetzung von Politik sind. Die Erfolge der politischen Maßnahmen sind noch nicht richtig erkennbar. Angetreten ist die jetzige Regierung als Fortschritts-Koalition. Daraus wurde schnell eine Krisen-Bewältigungs-Regierung. Das macht sie auch vergleichsweise gut, indem sie direkt und zupackend auf die großen Krisen reagiert. Doch es braucht noch mehr, um das Vertrauen der Leute wiederzuerlangen, die ansprechbar sind. Da spielt die Arbeitswelt eine wichtige Rolle; das heißt, die dort erfahrene Anerkennung, die Möglichkeit des Aufstiegs. Da spielen ebenso die Medien eine herausragende Rolle und ihre Haltung in diesen Konflikten. Mit anderen Worten, die Phänomene der hochfahrenden Kritik an den bestehenden Verhältnissen lassen sich nicht einfach der Regierung ankreiden, sie sind in einer Gesamtkonstellation zu suchen.

Es geht also um eine gesellschaftspolitische Debatte.

Genau. Es geht darum, Perspektiven der Anerkennung und Integration aufzubauen. Das ist schwierig, weil die großen Integrationsinstanzen des 20. Jahrhunderts - Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Vereine - in starkem Maße angeschlagen sind. Die neuen Integrationsinstanzen tendieren wenig in Richtung von Inklusion und mehr in Richtung kleinteiliger identitärer Integration. Beispiele sind Reichsbürger, die LGBTQIA-Bewegung, ethnische Minderheiten oder die Start-up-Szene.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

"Die AfD ist eine rechtsextreme und rechtspopulistische Partei"

Ist die AfD eine normale Partei? Wohl eher nicht, wenn sie vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird. Gegen Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke ist jetzt Anklage wegen Verwendens von NS-Vokabular erhoben worden.

Es ist eine rechtsextreme und rechtspopulistische Partei. Viele der Führungspersönlichkeiten und Mitglieder stehen nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, was Toleranz, Meinungsfreiheit und die universelle Anerkennung von elementaren Grundrechten betrifft. Das Phänomen des Erstarkens von rechtspopulistischen Parteien haben wir in den letzten Jahren in vielen EU-Ländern erlebt. Viele dieser Parteien erreichen zwischen zehn und 30 Prozent der Wählerstimmen und sehen in einer nationalistisch-autoritären Politik die Antwort auf die aktuellen Probleme.

Besonders gute Werte hat die AfD im Osten des Landes. So kam sie in Umfragen in Brandenburg zuletzt auf 23, in Sachsen auf 26 und in Thüringen auf 28 Prozent. Wird die Partei bald in den Landesregierungen sitzen, wenn die drei Bundesländer nächstes Jahr neue Landtage wählen?

Nein, das sehe ich gegenwärtig nicht. Bei dieser Überlegung geht es ja hauptsächlich um die CDU und FDP in Ostdeutschland, die theoretisch als Koalitionspartner für die AfD in Frage kämen. Das würde für die Gesamt-Parteien jedoch enorme Verluste von Einfluss und Glaubwürdigkeit bedeuten, wenn sie es täten. Das sollten diese Parteien nach dem Kemmerich-Debakel wissen.

Die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Stimmen von AfD, CDU und FDP löste in Thüringen 2020 eine Regierungskrise aus. Das wurde in der Öffentlichkeit als "Tabubruch" und als erste Kooperation bürgerlicher Parteien mit einer rechtsextremen Partei eingeschätzt.

Zwar hat CDU-Chef Merz kürzlich nochmal die Brandmauer zur AfD betont. Würde er sein Wort brechen, müsste er zurücktreten. Das wird vermutlich nicht passieren. Trotzdem deuten sich vor allem im kommunalen Bereich schon jetzt vielfältige Kooperationen an. So wird es bei den Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern nicht leicht, weil die AfD durchaus in einzelnen Bundesländern die stärkste Partei werden könnte. Aber auch damit muss man umgehen können, ohne dass man die AfD imitiert und ihre Positionen übernimmt.

Zur Person: Wolfgang Schroeder ist Politikwissenschaftler. An der Universität Kassel ist er Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Von 2009 bis 2014 war er Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. Außerdem ist er Mitglied der Grundwertekommission der SPD.
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