Behörden in mindestens sechs Bundesländern sollen sich in den vergangenen Jahren mit Taleb A., dem Amok-Fahrer von Magdeburg, beschäftigt haben. Über 100 Mal soll er in Kontakt mit dem Staat gekommen sein. Es ging um Anzeigen, Ermittlungsverfahren, Urteile.
Bald einen Monat ist die tödliche Fahrt von Magdeburg mittlerweile her. Am 20. Dezember raste ein Mann mit einem Auto in Menschen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt. Sechs Menschen starben, fast 300 Menschen wurden verletzt. Der Täter: Taleb A..
Für die Behörden war er kein Unbekannter, wie ein 16-seitiges Dokument des Bundeskriminalamts (BKA) jetzt offenlegt. Erstellt wurde das Papier, das dem "Spiegel" (Bezahlinhalt) vorliegt, für eine Sitzung des Innenausschusses im Bundestag. Der Inhalt des Dokuments ist brisant. Es geht um den Anschlag – und die Frage, welchen Behörden A. zuvor bereits bekannt war.
Von 80 Vorgängen war nach der bisher letzten Sitzung des Innenausschusses des Bundestags Ende Dezember die Rede. Jetzt sind es 105. Aufklärung erwarten die Fraktionen aller im Bundestag vertretenen Parteien von Innenministerin
A. war den Behörden bekannt
Insgesamt, so legt es laut "Spiegel" eine Tabelle in dem BKA-Bericht nahe, gab es über 100 Vorgänge, die mit dem Amok-Fahrer im Zusammenhang stehen. Die Behörden aus mindestens sechs Bundesländern hätten mit ihm zu tun gehabt. Aber auch Bundesbehörden wie das BKA, der Bundesnachrichtendienst oder der Verfassungsschutz.
Warnungen vor A. seien zudem aus dem Ausland gekommen. Aus Großbritannien, Kuwait, Saudi-Arabien. Warum hat ihn niemand aufgehalten? Diese Frage will auch der Innenausschuss klären.
Erste Auffälligkeit 2013
Immer wieder sei der Mann aus Saudi-Arabien durch Gewaltandrohungen aufgefallen. Das erste Mal bereits 2013, damals noch in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kam es wohl zu einem Streit mit der Ärztekammer. Es soll dabei um die Zulassung zur Facharztprüfung gegangen sein.
A. drohte mit einem Terroranschlag und bekam vom Gericht eine Geldstrafe aufgebrummt. Wie der "Spiegel" mit Verweis auf das vertrauliche BKA-Dokument schreibt, soll die Kriminalpolizei damals angeregt haben, den Mann psychiatrisch untersuchen zu lassen. Unklar ist, was daraus wurde.
2014 sollen sich dann saudi-arabische Behörden an den Verfassungsschutz gewandt haben: A. habe dem Botschafter gedroht, nachdem Saudi-Arabien ihm ein Stipendium für seinen Aufenthalt in Deutschland entzogen hatte. Wieder ein Jahr später meldete A. sich laut dem Magazin im Kanzleramt und richtete eine Drohung gegen zwei Rostocker Richter, die er erschießen wolle. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber ein.
Täter von Magdeburg bekam trotz zahlreicher Auffälligkeiten Asyl
Wenig später soll A. dann Asyl beantragt haben – und wurde anerkannt. Damit ging es für den späteren Amok-Fahrer in Sachsen-Anhalt weiter. Auch dort soll er immer wieder aufgefallen sein. Er machte vermeintlichen Gegnern und Behörden teilweise wirre Vorwürfe, sowohl auf Social Media als auch in Strafanzeigen. Und er fing an, als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie zu arbeiten.
2021 und 2023 zeigte Taleb A. Justizbeamte an. Auch auf Social Media soll sich der spätere Amok-Fahrer radikalisiert haben. Mehrfach, so legt es laut "Spiegel" der BKA-Bericht nahe, sollen sich saudi-arabische Behörden an Deutschland gewandt haben. Gewarnt haben, dass eine Gefährdung vorliegen könnte.
Zweimal habe die Polizei Sachsen-Anhalt A. für eine sogenannte Gefährderansprache aufgesucht. Das letzte Mal im Oktober 2024. Bewirkt hat das, mit Blick auf die Toten und Verletzten von Magdeburg, offensichtlich nichts.
Nach der Dezember-Sitzung des Innenausschusses im Bundestag zu dem Terrorakt hatte Faeser angekündigt: "Alle Hintergründe müssen gründlich ermittelt werden. Hier wird jeder Stein umgedreht." Wieso A. trotz seiner diversen Behördenkontakte und Auffälligkeiten auf freiem Fuß war und unbehelligt seine Amok-Fahrt durchziehen konnte, das wird der Ausschuss aufarbeiten müssen.
"Eher mehr als weniger Fragen"
Mit zuständig für die Kontrolle der Innenbehörden ist über Jahre schon unter anderem Konstantin von Notz. Nun sagt der Grünen-Abgeordnete der Deutschen Presse-Agentur: "Die Aufklärung des schlimmen Anschlags von Magdeburg steht noch ganz am Anfang." Erneut träten offen "sicherheitspolitische Defizite" zutage. Die Aufklärung in dem Fall sei auch deshalb wichtig, um diese schnellstmöglich abzustellen.
"Nach Vorlage der Chronologie haben wir eher mehr als weniger Fragen", sagt von Notz. Dass sich ein Untersuchungsausschuss mit den auf Landesebene stellenden Fragen beschäftigen werde, begrüßte der Politiker. Auch vom Bund forderte der Grünen-Vertreter Aufklärung etwa zur Frage, welche Mängel am Sicherheitskonzept des Weihnachtsmarktes bestanden und warum das Konzept nicht voll umgesetzt worden sei. "Genauso muss aber das Zusammenspiel der zahlreichen beteiligten Sicherheitsbehörden auf Landes- und Bundesebene aufgeklärt werden. Dies gilt auch und gerade für die Rolle der Nachrichtendienste."
Defizite lange bekannt
Zentrale Frage für von Notz: "Warum die Gefährlichkeit des Täters nach heutigem Stand nicht erkannt wurde – trotz zahlreicher Hinweise". Die nahende Bundestagswahl, so mahnt der Abgeordnete der rot-grünen Minderheitsregierung keine sechs Wochen vor der Neuwahl, dürfte nicht dazu führen, dass die zahlreichen bisher unbeantworteten Fragen aufgeschoben oder nicht mehr beantwortet würden. Bekannt seien die Defizite "teils seit Jahren".(ras)
Verwendete Quellen
- dpa
- Spiegel.de: "Vertraulicher Bericht zum Magdeburg-Todesfahrer: 16 Seiten Sprengstoff" (Bezahlinhalt)
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.