Vor zehn Jahren spaltete Christian Wulff mit dem Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" die Nation. Wie aber steht es heute um die Integration des Islam?
"Der Islam gehört zu Deutschland" – mit diesem Satz löste Ex-Bundespräsident
Für den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, ist es gar keine Frage. "Längst gehört der Islam zu Deutschland", sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion, "auch schon vor der sogenannten Gastarbeiterwelle. Schon Goethe sagte: ‘Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident, sind nicht mehr zu trennen.‘"
Dass Mazyek aus Goethes "West-östlichem Divan" zitiert, ist kein Zufall. Christian Wulff hatte dieselbe Textstelle in seine Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2010 eingebaut. Und zwar direkt nach dem berühmt gewordenen Satz "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland".
Dabei hat es durchaus Gewicht, sich auf den deutschen Dichterfürsten zu beziehen. Dessen mehr als 200 Jahre altes Werk ist von persischer Lyrik inspiriert. Goethe baut damit eine Brücke zwischen den Kulturen und Religionen.
Grundlagenpapier der CDU Sachsen-Anhalt: Der Islam gehört nicht zu Deutschland
Diese Brücke würde man heute Integration nennen. Für André Schröder, stellvertretender Landesvorsitzender der CDU Sachsen-Anhalt, trägt diese nur mit einem gemeinsamen Wertekanon.
"Die bei uns lebenden Muslime machen von ihrem Grundrecht auf freie Religionsausübung Gebrauch und leben damit ihren Islam ganz selbstbewusst", sagt Schröder. "Die aufnehmende Gesellschaft muss diese Werte verteidigen. Ein fundamentalistisch geprägter Islam, der die Scharia über den Rechtsstaat stellt und sogenannte Ungläubige ausgrenzt, darf uns nicht an der erforderlichen Integration bei uns lebender Muslime hindern."
Schröder hat maßgeblich an einem Grundlagenpapier der CDU Sachsen-Anhalt mitgewirkt. Dort heißt es: "Mit Blick auf unsere kulturellen Werte und historischen Prägungen gilt aber auch, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört."
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Leitkultur in Deutschland als Maßstab für Integration des Islam?
Gibt es jedoch eine Leitkultur in Deutschland? Mazyek und Schröder sind sich einig, dass sich die Werte für eine Leitkultur aus der freiheitlich-demokratischen Grundordnung speisen. Mazyek bezeichnet die Verfassung gar als den "größten, wichtigsten und großartigsten Freund der Muslime hierzulande". Doch verträgt sich diese überhaupt mit dem Islam?
"Viele Muslime leben in Deutschland gut integriert und akzeptieren dies", sagt Schröder. "Der Islam darf also nicht pauschal zu einem Antipoden gemacht werden. Klar ist aber auch: Für Fundamentalisten und Gotteskrieger ist kein Platz in unserem Land."
Für Aiman Mazyek verbittet sich eine Diskussion um Verträglichkeit eigentlich. "Sie wird aber von gerade denen geführt, die unsere Verfassung täglich hinterrücks oder offen mit Füßen treten und verachten", ergänzt er.
Islam noch lange nicht selbstverständlicher Teil Deutschlands
Ist der Islam also selbstverständlich in der deutschen Gesellschaft verankert? "Das ist er leider – noch – nicht", sagt Mazyek. "Das Werk der Islamkritiker und Islamhasser hat mit zur Achsenverschiebung beigetragen. Und Extremismus-Vorbehalt gegenüber Muslimen aufrecht gehalten. Real leben über 5 Millionen Muslime weitestgehend ruhig, integriert in unserer Mitte. Bestimmte Diskurse, von Rechten dominiert, von Teilen der Politik dann aufgenommen, wollen ein Zerrbild zeichnen. Das gelingt leider zusehends."
Schröder sieht das Thema Integration positiver: "Eine offene, pluralistische Gesellschaft braucht einen Dialog der Kulturen. Er findet in unserer Gesellschaft unentwegt statt", sagt der CDU-Mann.
Und dazu hat – laut Schröder – der Satz von Christian Wulff beigetragen: "Der Satz von Herrn Wulff hat in seiner Pauschalität und Verkürzung von Anfang an Widerspruch provoziert. Der daraus zwangsläufig folgenden Debatte kann man aber nach zehn Jahren durchaus etwas Positives abgewinnen."
Dialog zwischen den Kulturen und Religionen bleibt notwendig
Für Mazyek bildet Wulffs Aussage schlicht Realitäten ab. "Die aber einige bis heute nicht wahrhaben wollen", schränkt er ein. "Und lieber Ängsten und Feindbildern nachsinnen auf Kosten des Zusammenhaltes und Friedens in unserer Gesellschaft."
Ein guter Dialog zwischen den Kulturen beziehungsweise Religionen ist also wichtiger denn je. Dass es dabei noch Verbesserungspotenzial gibt, betonen sowohl Mazyek als auch Schröder.
"Unter den Gruppen und Religionsgemeinschaften, in Teilen auch mit dem Staat hat sich der Dialog quantitativ und qualitativ erheblich verbessert", sagt Mazyek. "Im Mainstream – siehe nur die Auswahl an Themen und Gästen in Talkshows – hat sich jedoch nicht viel getan."
Schröder wirbt für einen entspannten Diskurs: "Der deutschen Mehrheitsgesellschaft wäre eine Portion Souveränität und Gelassenheit zu wünschen, diesen Dialog selbstbewusst und ohne Vorverurteilung zu führen. Eine aufnehmende Gesellschaft darf wissen wollen, wer kommt, muss entscheiden können, wer bleiben darf und sollte auch durchsetzen, wer gehen muss. So hilft der Dialog zwischen den Kulturen auch, eigene Positionen zu festigen."
Wenn der berühmte Satz von Wulff etwas Gutes hatte, dann ist es wohl genau das – den Dialog aufrechtzuerhalten.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Aiman Mazyek
- Interview mit André Schröder
- CDU Sachsen-Anhalt: Wir, die CDU – unsere Identität, Grundlagenpapier der CDU Sachsen-Anhalt vom 7. Dezember 2019
- Der Bundespräsident: Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit
- Deutschlandfunkkultur.de: 200 Jahre “West-östlicher Divan“ Goethes dichterischer Brückenschlag
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