Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im syrisch-türkischen Grenzgebiet durch die Türkei hat die Nato am Dienstag eine Sondersitzung einberufen. Zuvor gab es Spekulationen, ob Ankara das erneute Eindringen der Russen in den eigenen Luftraum als Bündnisfall werten könnte. Bisher trat der Verteidigungsfall erst einmal in Kraft – nach dem 11. September 2001.

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Die Beziehung zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan war bisher trotz Meinungsverschiedenheiten von nüchternem Respekt gekennzeichnet. Damit ist es nach dem schweren Vorfall im syrisch-türkischen Grenzgebiet erst einmal vorbei.


Der Abschuss eines Kampfjets der russischen Luftwaffe sei ein "Stoß in den Rücken, begangen von Helfershelfern von Terroristen", schimpfte Putin bei einer Ansprache im russischen Staatsfernsehen. Erdogan verteidigte dagegen das Recht seines Landes, die eigenen Grenzen zu verteidigen.

Gemeinsam gegen Russland?

Dass er sich nun tatsächlich auf den sogenannten Nato-Bündnisfall berufen wird, gilt als eher unwahrscheinlich. Ein Angriff der Russen auf die Türkei lag nicht vor, sie bekämpften syrisch-turkmenische Rebellen.

Dabei soll das Flugzeug kurz über türkisches Staatsgebiet geflogen sein. Selbst nach den Terroranschlägen von Paris hatte Frankreich auf die Bestimmung des Bündnisfalls verzichtet.

Was ist der Nato-Bündnisfall?

Aber was ist unter diesem Begriff eigentlich zu verstehen? Der gemeinsame Verteidigungsfall der Nato ist in Artikel fünf des Washingtoner Vertrages festgeschrieben.

Die Unterzeichnerparteien haben dort vereinbart, "dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird".

Sie verpflichteten sich im Bündnisfall, gegenseitig Beistand zu leisten. Notfalls mit der Anwendung von Waffengewalt, "um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten."


Als Angriff gilt nicht nur die Attacke eines anderen Staates, auch Anschläge von Terroristen können darunterfallen.

Was passiert im Bündnisfall?

Ist ein Staat einem Angriff ausgesetzt oder fühlt er sich bedroht, kann er eine Sitzung des Nordatlantikrats einberufen. Das hat die Türkei nun getan.

Im wichtigsten Entscheidungsgremium der Nato in Sicherheitsfragen sitzen die Botschafter der 28 Mitgliedstaaten. Sie müssten einstimmig darüber entscheiden, ob es sich um einen Bündnisfall handelt oder nicht.

Obwohl der gegenseitige Beistand über die Nato seinen Ursprung im Kalten Krieg und der Bedrohung durch die atomar aufgerüstete Sowjetunion hat, trat der Bündnisfall erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erstmals in Kraft – nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Russland von Nato eingeengt

Könnte es auch jetzt zum Bündnisfall kommen? Weil russische Kampfjets schon im Oktober türkischen Luftraum verletzt haben sollen, sei es denkbar, "dass die Türkei das wiederholte Eindringen in ihren Luftraum als Bündnisfall wertet", sagte Türkei-Experte Udo Steinbach gegenüber Focus Online.

Nach den ersten Reaktionen von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg scheint das aber ausgeschlossen. "Ich rufe zu Ruhe und zu Deeskalation auf", erklärte Stoltenberg am Dienstagabend nach der Sondersitzung des Nato-Rates in Brüssel. Auch US-Präsident Barack Obama rief zu Besonnenheit auf.

Wie stehen Nato und Russland zueinander?

Die Beziehungen zwischen dem größten Flächenland der Erde und der Nato sind ohnehin gespannt.

Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 galt es unter führenden Politikern als undenkbar, dass sich das von den USA geführte Militärbündnis einmal bis an die Grenzen der damaligen Sowjetunion ausdehnen würde.

Heute ist die Nato-Osterweiterung längst Realität, trotz früherer Warnungen namhafter US-Politiker, wie Ex-Verteidigungsminister Robert McNamara. 2004 traten Estland, Lettland und Litauen bei.

Dass mit Georgien und der Ukraine weitere Nachbarländer Russlands eine Nato-Mitgliedschaft anstreben, wertet Moskau als weiteres Eindringen in seine Interessenssphären.

Der Konflikt in der Ostukraine, der Georgienkrieg 2008 sowie die aktuellen Spannungen mit dem Kaukasus-Staat um den Status der abtrünnigen Republik Südossetien belegen das.

Will Moskau die Nato spalten?


Welche Folgen der Abschuss der Maschine nun für die geplante Koalition gegen die Terrormiliz IS hat, ist schwer abzuschätzen. Fest steht: Russland und die Türkei haben in Syrien gegensätzliche Interessen.

Ankara will das Ende des syrischen Diktators Baschar al-Assad, Russland geht als engster Verbündeter Assads mit Luftangriffen gegen syrische Rebellen und den sogenannten "Islamischen Staat" vor.

Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagte Focus Online, er halt es für möglich, dass Putin nun versuchen wolle, "die Nato zu spalten", indem er beispielsweise mit Frankreich eine engere Koalition im Kampf gegen den IS schmiede.

Der unkalkulierbare Spieler

Der türkische Präsident Erdogan konnte sich durch den Abschuss des Jets als starker, handlungsfähiger Staatsmann inszenieren, der vor keinem Gegner zurückschreckt.

Die Nato zeigte sich zwar solidarisch mit ihm, der deutsche Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel übte derweil scharfe Kritik.

Der Zwischenfall zeige, "dass wir einen Spieler dabei haben, der nach Aussage von verschiedenen Teilen der Region unkalkulierbar ist: Das ist die Türkei und damit nicht die Russen."

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