Russland befestigt die Krim gegen die ukrainische Gegenoffensive. Ein Historiker erklärt unserer Redaktion die symbolische Bedeutung der Halbinsel für Moskau.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Patrick Mayer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Krim. Jene Halbinsel im Schwarzen Meer, die stets Ziel konkurrierender Mächte war. Die alten Griechen siedelten hier. Im 15. Jahrhundert fiel sie an das Osmanische Reich. Die Krimtataren unternahmen von hier aus Raubzüge, ehe sie dem Russischen Kaiserreich einverleibt wurden.

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1783 erklärte Zarin Katharina die Große die Krim "von nun an und für alle Zeiten" für russisch. Doch: 1954 ging das Territorium im Schwarzen Meer an die Ukraine. Holt sich die Ukraine die Krim nach der völkerrechtswidrigen Annexion durch Russland 2014 in ihrer Gegenoffensive nun zurück? Nachdem russische Truppen diese angeblich stark befestigt haben?

Ukrainische Gegenoffensive: Ist auch die Krim ein Ziel?

"Das wäre eine empfindliche symbolische Niederlage für das Putin-Syndikat", sagt Prof. Dr. Klaus Gestwa. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt der Historiker die Bedeutung der Krim für Moskau. Und der Osteuropa-Experte der Universität Tübingen ordnet ein, warum die Ansprüche Kiews gerechtfertigt sind, während die Argumentation von Kreml-Machthaber Wladimir Putin ins Leere läuft. "Die russische Bevölkerung reagiert sensibel auf Entwicklungen auf der Krim", erklärt Gestwa, der in Zeiten des Ukrainekriegs informelle Kontakte nach Russland pflegt.

Der 60-Jährige warnt: "Wir dürfen keinesfalls den Fehler machen, die Geschichte der Krim auf die Ukraine und Russland zu reduzieren. Die Halbinsel war wegen ihrer exponierten Lage seit jeher von ethnischer Vielfalt geprägt und entzieht sich damit jeglicher einseitiger nationaler Geschichtsdeutung."

Drei Jahrhunderte lang vor der ersten russischen Annexion unter Katharina II. (1783) sei die Krim ein tatarisches Khanat gewesen, welches "unter dem Protektorat des Osmanischen Reiches" stand, erzählt der Geschichtswissenschaftler: "In dieser Ära war die Halbinsel von einer islamischen Hochkultur geprägt."

Historiker über Putin: Bedeutung der Krim ungeniert ausgenutzt

Bei seinem "Krim unser" nutze Putin jedoch die Bedeutung der Halbinsel als von russischen Literaten und Touristen verklärten Sehnsuchtsorts politisch ungeniert aus, sagt Gestwa, "um die russische Gesellschaft hinter seinen Kriegskurs zu bringen".

Eben jene Bevölkerung kennt er gut, er hat einst in Moskau und Sankt Petersburg studiert. "Bei seiner aggressiven Geschichtspolitik findet das Putin-Regime in der russischen Geschichtswissenschaft immer wieder willige Helfershelfer, die den vergangenen militärischen Ruhm beschwören und die Geschichte für politische Zwecke missbrauchen", sagt er: "Die Krim spielt für das aktuelle imperiale Bewusstsein Russlands eine wichtige Rolle."

So sei es auf der Halbinsel früher zu heroisch verklärten Schlachten gekommen, etwa im Krimkrieg (1853 bis 1856). "Damals verloren die russischen Streitkräfte auf der Krim erbittert geführte Schlachten gegen waffentechnisch überlegene britische, französische und sardisch-italienische Armeen, deren Auftrag darin bestand, dem russischen Expansionismus im Schwarzen Meer und auf dem Balkan einen Riegel vorzuschieben.

Der Krieg endete mit der schmählichen Niederlage Russlands", führt der Historiker aus. Es gebe Parallelen zur heutigen Expansionspolitik. So befinde sich in der syrischen Hafenstadt Tartus "der letzte Marinestützpunkt außerhalb des russischen Festlandes. Die Krim stelle damit einen Vorposten dar, um von Sewastopol aus im Schwarzen Meer und in Teilen des Mittelmeeres Hegemonie zu erlangen und so den nach 1991 bedrohten Großmachtstatus abzusichern".

Die Krim: Die USA haben politische Interessen im Schwarzen Meer

Insbesondere im geopolitischen Ringen mit den Amerikanern. "Dass das Schwarze Meer und das Asowsche Meer nicht alleine russische Meere sind, ist im Interesse der USA. Es gibt andere Anrainerstaaten. Am Schwarzen Meer sind das auch Nato-Staaten. Russlands Bestreben ist, das Schwarze Meer zu einem rein russischen Meer zu machen. Das Interesse der USA ist, dass sie in dieser Region eine freie Schifffahrt durch den Bosporus haben", erklärt Prof. Dr. Thomas Jäger unserer Redaktion.

Der Politikwissenschaftler lehrt an der Universität Köln in "Internationaler Politik und Außenpolitik". Den USA ginge es darum, dass sich dort auch andere Staaten im Luftraum und zu Wasser frei bewegen können. "Die Gebiete, die frei zugänglich sind, sollen frei zugänglich bleiben", sagt er zu den Interessen Washingtons: "Die Vereinigten Staaten haben die Position eingenommen, dass die Annexion der Krim nicht anerkannt wird."

Eben jene Krim übergab der Kreml Kiew in der Sowjetunion einst aus eigenen Stücken. "1954 war ein Jubiläumsjahr. 300 Jahre zuvor hatten sich die östlich des Flusses Dnipro lebenden Saporoger Kosaken gegen die polnisch-litauische Adelsrepublik gestellt und sich dem Moskauer Zarenreich zugewandt, weil sie sich mehr Autonomie versprachen", erzählt Gestwa.

Den 300. Jahrestag habe der damalige Erste Sekretär der KPdSU und somit Staatschef, Nikita Chruschtschow, zum Anlass genommen, die Krim der Sowjetukraine zugeschlagen, erklärt der Osteuropa-Forscher: "Er war ein Jahr zuvor neu ins Amt des Parteichefs gekommen und musste seine Macht festigen.

Mit ihrer Schwerindustrie, der Landwirtschaft sowie ihrer großen Bevölkerung war die Ukraine die zweitbedeutendste Sowjetrepublik. Mit dem Krim-Deal wollte sich Chruschtschow deren Unterstützung sichern."

Ukrainekrieg: Ist die Krim kriegsentscheidend für Russland?

Russland habe indes nach 1991 in mehreren international verbindlichen Verträgen der Ukraine die Unverletzbarkeit ihrer Grenzen garantiert, erklärt Gestwa: "Dann hat Putin aber seine imperiale Geschichtspolitik über das Völkerrecht gestellt."

Ein Kampf um die Krim könne deshalb kriegsentscheidend sein, glaubt er: "Fällt die Halbinsel an die Ukraine, dürfte es vermutlich um Putins Macht im Kreml geschehen sein. Gelingt dies nicht, wird sich der Krieg hinziehen und die Ukraine über einen unsicheren Frieden gegen Territorium nachdenken müssen, der den Keim eines neuen Krieges in sich tragen würde."

Zu den Personen:
Prof. Dr. Klaus Gestwa, Historiker und Osteuropa-Experte von der Universität Tübingen
Prof. Dr. Thomas Jäger, Politikwissenschaftler von der Universität zu Köln
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