In Polen zeichnet sich ein Machtwechsel ab, die Regierungspartei PiS hat die absolute Mehrheit verloren. Aussicht auf den Regierungsposten hat Donald Tusk, der mit einem deutlich pro-europäischen Kurs ins Rennen gegangen ist. Wie hat er das gemacht? Eine Politikwissenschaftlerin erklärt, welchen Teil der Gesellschaft Tusk mobilisiert hat und was Deutschland davon lernen kann.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Polen steht kurz vor einem Regierungswechsel. In der Parlamentswahl vom 15. Oktober, die als die wichtigste europäische Wahl dieses Jahres galt, hat die bisherige Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Unterhaus ihre absolute Mehrheit verloren. Die nationalkonservative Partei wurde zwar erneut stärkste Kraft (35,4 Prozent), ihr fehlen aber Partner für eine Regierungsbildung.

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Aussicht auf das Amt des Ministerpräsidenten hat derzeit vor allem der Oppositionsführer und frühere Regierungschef Donald Tusk. Er führt die Bürgerkoalition (KO) an, die auf 30,7 Prozent der Stimmen kam und könnte nun gemeinsame Sache mit dem christlich-konservativen Dritten Weg (14,4 Prozent) und dem Linksbündnis Lewica (8,6 Prozent) machen.

Expertin: "PiS hat mit Polarisierung komplett überzogen"

Während in Polen noch die Sondierungsgespräche zu möglichen Regierungsbildungen laufen, fragt man hierzulande bereits: Was erklärt den Erfolg von Tusk? Der mögliche Machtwechsel wird als Sieg der Demokratie, gar als historische Wahl gefeiert. Wie hat er das gemacht?

Die Politikwissenschaftlerin Gabriele Abels hat die Wahl in Polen aufmerksam beobachtet. "Ein zentraler Faktor ist, dass die PiS mit ihrer starken Polarisierung komplett überzogen hat. Sie hat damit zwar ihre starken Stammwähler angesprochen, aber andere Wählergruppen verschreckt."

Giftiger Wahlkampf

Der Wahlkampf war von beiden Lagern zunächst giftig geführt worden. So hatte die PiS Tusk als "Verkörperung des Bösen" und als Verräter, der "moralisch ausgelöscht" werden müsse, bezeichnet. Aber auch Tusk hatte gesagt, die PiS stehe für "Pathologie und Gangwesen" und teile die Mentalität von Arbeitslosen, die ihre Frauen und Kinder schlagen würden.

Die Töne, die Tusk dann aber kurz vor der Wahl fand, klangen anders. Er betonte die Notwendigkeit, Spaltung zu überwinden und die Gesellschaft zu einen. Ebenso hatte er die Einigkeit der Oppositionsparteien herausgestellt. "Tusk hat sich der Polarisierung entzogen oder ist nicht auf sie eingestiegen.

Er hat stattdessen auf einen moderaten, gesellschaftspolitisch liberaleren und pro-europäischen Kurs gesetzt", sagt Abels. So hatte Tusk beispielsweise angekündigt, das Verhältnis zur EU zu befrieden und Polen wieder zu einem "normalen" Land zu machen.

Mit ihrer populistischen Politik war die polnische Regierung in der EU zuletzt immer wieder angeeckt. Die EU-Kommission klagte mehrfach gegen auch in Polen umstrittene Reformen der PiS und hat wegen der gefährdeten Unabhängigkeit der Justiz 35 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbau-Fonds eingefroren.

Rekord bei der Wahlbeteiligung in Polen

Ein wichtiger Faktor für den Ausgang der Wahl sei aber auch die hohe Wahlbeteiligung gewesen. Mit 74,38 Prozent verzeichnete Polen die höchste Wahlbeteiligung seit dem Ende des kommunistischen Systems.

"Die Wahlbeteiligung war so hoch wie noch nie, vor allem junge Frauen waren eine wichtige Gruppe", sagt Abels. Bei den jungen Menschen sei die PiS alles andere als die führende Partei. Vor allem die Abtreibungspolitik der PiS könnte junge Frauen an die Urne getrieben haben. Es hatte zu dem Thema in den letzten Jahren viele Massendemonstrationen gegeben. Die Wahl wurde von der Opposition zur Richtungswahl zwischen dem Weg in die Diktatur und einer Rückkehr in die Demokratie erklärt.

Tusk habe der PiS insgesamt allerdings keine Stimmen von Stammwählern abgejagt, sondern er habe die unentschlossene Mitte oder frühere Nichtwähler mobilisiert. "Er hat Wählerschichten angesprochen, die sich von der extremen Polarisierung der PiS abgeschreckt gefühlt haben", sagt Abels. Dabei habe er aber nicht einfach die Themen von der PiS übernommen und setzen lassen. Dennoch habe er vor Ankündigungen in der Migrationspolitik, die einige Restriktionen beinhalten, nicht zurückgeschreckt.

Polen: Signal an Deutschland und die Welt

Aus Sicht von Abels ist das Wahlergebnis in Polen vor allem aus einem Grund bemerkenswert: "Die Pis hat in den letzten Jahren den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf PiS-Linie gebracht. Es war nicht einfach für eine Oppositionspartei, überhaupt das öffentliche Gehör zu finden." Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft habe hier ein Gegengewicht geschaffen.

Das Signal, welches an Deutschland und in die Welt gehe, laute: "Rechtspopulisten, auch wenn sie staatliche Strukturen bereits umgebaut haben, können an der Wahlurne geschlagen werden. Regierungswechsel sind möglich."

Ob die Vorgänge so auf Deutschland übertragen werden können, bezweifelt sie allerdings. "Wir haben noch kein so stark polarisiertes und auf zwei Lager fokussiertes Parteiensystem. In Deutschland gibt es viel mehr kleine und mittelgroße Parteien", sagt Abels.

Andere Polarisierungslinie in Deutschland

Außerdem sei die grüne Partei in Deutschland vergleichsweise stark. "Die Polarisierung verläuft in Deutschland vor allem entlang der AfD auf der einen Seite und den Grünen auf der anderen Seite. Die Grünen spielen in Polen aber nur eine untergeordnete Rolle", so die Expertin. Sie seien in Polen Teil eines Bündnisses. "Durch die Eigenständigkeit der grünen Partei in Deutschland haben wir hier eine andere Polarisierungslinie", erklärt Abels.

Zudem würden Themen in Polen eine Rolle spielen, die hier in Deutschland keinen Anklang finden würden. "Tusk wird in Polen als Marionette Deutschlands beschimpft. Auch die Verbindungen nach Russland und der starke Anti-Kommunismus spielen eine Rolle", beobachtet sie.

Auch im direkten Vergleich zwischen der PiS und der AfD gebe es einige Unterschiede. So habe sich die PiS in den vergangenen acht Jahren beispielsweise mit Sozialreformen in der Bevölkerung beliebt gemacht. Die AfD sei in ihren sozialpolitischen Vorstellungen aber viel diffuser als die PiS. "Die AfD hat im Bundestag gegen Mindestlohn gestimmt. Sie ist nicht per se eine Partei der kleinen Leute, sondern wirtschaftspolitisch oft sehr liberal", erinnert Abels.

Frauen als wichtige Wählergruppe

Sollte Tusk Regierungschef werden, wird es aus Abels Sicht kein Zuckerschlecken. "Es wird für die neue Regierung, wenn sie dann mal im Amt ist, nicht einfach, eine versöhnende Politik zu fahren. Die Regierung selbst würde aus vielen Parteien bestehen", sagt sie. Sie seien sich in ihrem Anti-Pis-Kurs zwar einig, hätten aber keine gemeinsame Programmatik. "Die Pis hat außerdem in den letzten Jahren den Umbau der Justiz, Medien und Verwaltungen vorangetrieben. Dort sitzen noch immer viele Pis-Leute – sie werden nun schauen, wo sie blockieren können – nicht zuletzt Präsident Duda, der noch bis 2025 gewählt ist", vermutet Abels.

Bei allen Unterschieden und Schwierigkeiten könne die Politik hierzulande aber lernen: "Frauen und junge Frauen sind ein wichtiger Teil der Wählerschaft. Wenn in Deutschland nur 20 Prozent der Frauen sagen, dass sie sich Friedrich Merz als Kanzler oder Kanzlerkandidaten vorstellen können, kann man sie nicht mit einer konservativen Programmatik einfangen", sagt Abels.

Die Bundesregierung müsse die EU-Politik neu in den Blick nehmen. "Sie sollte das alte Weimarer-Dreieck aus Deutschland, Polen und Frankreich revitalisieren. Wir brauchen eine Reform der Institutionen und der Verträge, bevor es eine Erweiterung der EU geben kann", meint Abels. Polen habe das zuletzt blockiert. "Jetzt haben wir die Chance, mit Fehlern aus der Vergangenheit aktiv umzugehen und Polens Bedenken ernst zu nehmen, gerade auch was die Sicherheitspolitik angeht", sagt sie.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Prof. Dr. Gabriele Abels ist Professorin für vergleichende Politikwissenschaft und europäische Integration an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Sie studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Englische Philologie.
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