Wie kann es eigentlich sein, dass Reiche länger leben, fragt Eckart von Hirschhausen in seiner neuesten ARD-Doku. Bei "Hart aber fair" legt er nach – und SPD-Minister Hubertus Heil rührt mit einer ganz persönlichen Geschichte.

Eine Kritik

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Man könnte garstig sein und mit ironischem Ton in der Stimme sagen, dass Frank Plasberg da einer ganz großen Sache auf der Spur ist: Arme Menschen sterben früher. Das ist zwar seit Jahren bestens untersucht und bekannt, aber hey, warum es nicht einfach noch einmal als Neuigkeit verkaufen?

Man könnte aber auch einsehen, dass in der Politik auch schonmal ein und dieselbe Sau mehrmals durch Dorf getrieben werden muss, bis sie endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient. Und dafür tat Frank Plasberg an diesem Montagabend der einfachen Fragen nun wirklich sein Bestes.

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Was ist das Thema bei "Hart aber fair"?

Die erste einfache Frage verpackte Plasberg gleich im Titel der Sendung: "Schlechte Bildung, kürzeres Leben: Wie kann das sein im Jahr 2019?"

Im Zuge der ARD-Themenwoche "Zukunft Bildung" (nur echt mit Hashtag: #ZukunftBildung) beschäftigte sich der Talkmaster mit dem, O-Ton Plasberg, "brutalen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Einkommen".

Der lässt sich in zwei Zahlen eindrücklich illustrieren: Im Vergleich zu Frauen mit geringem Einkommen leben Frauen mit hohem Einkommen 4,4 Jahre länger. Bei den Männern beträgt der Unterschied sogar 8,6 Jahre. Nochmal Plasberg: "Das ist schon … puh!"

Wer sind die Gäste?

  • Quasi im Vorprogramm von "Hart aber fair" lief an diesem Abend eine Dokumentation von Eckart von Hirschhausen, die Studien und Erkenntnisse zum Thema in einem unterhaltsamen Experiment veranschaulichte: Der bekannte Autor und Moderator ließ 100 Versuchspersonen Auskunft über ihre Gesundheitsfaktoren geben. Grosso modo ergab sich das erwartete Bild – Teilnehmer aus prekären Verhältnissen hatten eher eine schlechtere Lebenserwartung.
  • Mitgebracht ins Studio hatte von Hirschhausen seine Protagonistin Tanja Stolze. Die Taxifahrerin lieferte eindrucksvolle Geschichten aus dem Alltagsleben.
  • Eine davon ließ Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) fassungslos zurück: Stolzes Arbeitgeber zahlt eine Prämie für Angestellte, die sich nie krank melden. "Ich finde das unmöglich", sagte Heil, der im Laufe des Abends allerdings sehr Vieles unmöglich fand. Das steht Politikern einer langjährigen Regierungspartei nie besonders gut, weil es die Zuschauer zu einer einfachen Frage verleiten könnte: Hat die SPD nicht auch etwas zu diesen Zuständen beigetragen?
  • Der zweite Politiker in der Runde, Thomas Kemmerich (FDP), leitet eine Friseursalon-Kette und reklamiert für sich, seinen Angestellten ein "angenehmes Arbeitsklima" zu verschaffen, inklusive Bewegungs- und Ernährungskursen. Alles in einem "vernünftigen Miteinander", was für den Liberalen vor allem bedeutet, ohne gesetzliche Regelungen (etwa für Arbeitszeitverkürzung) und Verbote auszukommen.
  • Als Expertin für den Bildungsbereich fungierte Doris Unzeitig, ehemalige Direktorin einer Brennpunktschule in Berlin. Sie berichtete von Kindern, die es schwer haben, weil es in Wahrheit deren Eltern sind, die man erziehen müsste. Zwanzig bis dreißig Prozent solcher Schüler könnte man integrieren, schätzt sie: "Aber irgendwann kippt es." Dass in Brennpunktschulen oft geballt die Probleme auflaufen, erachtet sie für "politisch gewollt".
  • Um einmal auch ein positives Beispiel zu zeigen, interviewt Plasberg auch Hannah Steiger, eine von zehn Gesundheitsfachkräten an hessischen Schulen. Sie baut Vertrauen zu den Schülern auf und tastet sich so zu sensiblen Themen wie Ernährungsberatung und Drogenprävention vor. Außerdem übt sie mit den Kindern Erste Hilfe – eine Schülerin, erzählt Steiger, habe so ihren Opa retten können: "Als ich das gehört habe, bin ich nach Hause geschwebt."

Was ist der Moment des Abends?

Der Applaus ist laut, als Steiger diese herzenswärmende Geschichte erzählt. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal an diesem Abend: Das Publikum freut sich auch mit Taxifahrerin Stolze, die stolz von ihren Söhnen erzählt, die sich nach Startschwierigkeiten einen guten Bildungsweg erarbeitet haben.

Und es ist gerührt, als Arbeitsminister Heil seiner verstorbenen Mutter dankt, die ihm als Alleinerziehende die Chance geboten hat, es bis in eines der höchsten Ämter des Staates zu schaffen: "Das war richtig stressig für meine Mutter."

Der Eindruck mag nicht repräsentativ sein, aber es gibt offenbar eine große Sympathie für solche Geschichten und für eine Gesellschaft, die solche Geschichten ermöglicht, die Kindern eine Chance auf Bildung und Entfaltung gibt, egal, in welcher Lage sich die Eltern befinden.

Die Wirklichkeit sieht so aus: Deutschland gibt lächerliche 0,6 Prozent des BIP für Grundschulen aus, so wenig wie kein anderes OECD-Land. Dabei können genau hier noch die größten Defizite von Kindern wettgemacht werden – wenn man nicht sogar schon früher ansetzen müsste.

"Jeder Euro, den wir in frühkindliche Bildung investieren, kommt 25-mal zurück", rechnet von Hirschhausen vor. Selbst, wer die Zahlen in Zweifel zieht, die grundlegende Logik dürfte über alle Parteien hinweg unstrittig sein.

Umso unlogischer, dass in Deutschland in Sachen Kita-Ausbau noch immer zu den Nachzüglern gehört. Oder, wie es von Hirschhausen ausdrückt: "Das ist keine Frage von Gutmenschentum. Es ist einfach dumm, es nicht zu tun."

Wie hat sich Frank Plasberg geschlagen?

Der Star des Abends sind die Fakten. Sie sprechen, fünf Euro ins Phrasenschwein, für sich, also muss Plasberg nicht so viel sprechen wie sonst, sondern nur die Einspieler anmoderieren.

Ein Kind, dessen Eltern keinen Bildungsabschluss haben, weist mit 44 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit eine Verhaltensstörung auf als ein Akademikerkind, erfahren die Zuschauer da. Sogar 2,5-mal häufiger ist es fettleibig. Dreimal so hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Karies bekommt.

"Wieso sind wir im Erforschen so gut und im Ändern so schlecht?", fragt Plasberg in diesem Moment, und wie so oft ist es die richtige Frage.

Was ist das Ergebnis bei "Hart aber fair"?

Ganz grob gesagt bilden sich in der Runde zwei Ansätze heraus: FDP-Politiker Kemmerich und Schulleiterin Unzeitig sehen die Verantwortung eher auf der individuellen Ebene: Eltern müssen sich zusammenreißen, die Raucher (Heil outet sich im Laufe der Sendung als Raucher, will aber Tabakwerbung verbieten) auch, und die Unternehmer sollen mit ihren Angestellten ausklabüstern, wie der Stress am Arbeitsplatz limitiert werden kann.

Heil und teils auch von Hirschhausen betonen immer wieder auch die bedeutende Rolle der gesellschaftlichen Umstände.

Heil etwa äußert früh sein Unbehagen, besonders bei den Einlassungen von Unzeitig: Die Schulleiterin konnte sich die Belehrungen darüber nicht verkneifen, wie man auf dem Markt für wenig Geld gesundes Essen einkaufen könnte, genauso wenig wie die Behauptung, Eltern aus prekären Verhältnissen würden ihre Kinder "oft abgeben und ihren eigenen Dingen nachgehen" - was sie vielbeschäftigen Karriere-Vätern und -Müttern nie vorwerfen würde.

"Wir sollten hier keinen Diskurs bildungsbürgerlich von oben herab führen", sagt SPD-Minister Heil darauf, wichtiger sei es, den "Teufelskreis zu durchbrechen".

Er wolle ohnehin weg von einer reaktiven Sozialpolitik. "Diese Sendung könnte den Anstoß geben zu fragen, was wir tun können, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist." Nun, vor allem: viel mehr Geld investieren, so als Anfang.

Das dürfte aber nicht in jedermanns Interesse sein, wie Plasberg selbst andeutet: Die "bürgerlichen Akademiker" (zu denen er auch von Hirschhausen zählt, was der TV-Arzt gar nicht witzig findet) würden doch zu gern unter sich bleiben, erklärt er.

Recht hat er, und ein genauerer Blick zeigt, dass nicht nur Standesdünkel eine Rolle spielt: Der deutsche Staat investiert fahrlässig wenig Geld in der frühen Phase der Bildung – schlecht für die Kinder aus der Unterschicht, kein Problem aber für die Akademikerkinder, die es dank ihrer Startvorteile meist leichtfüßig in die "höheren" Schulzweige schaffen.

In die Hörsäle, in denen sich dieselben Akademikerkinder ein paar Jahre später tummeln, pumpen die Steuerzahler dagegen im internationalen Vergleich recht viel Geld; an deutschen Universitäten ist gut gesorgt für die Söhne und Töchter von Richtern, Ärzten und Journalisten.

Noch so eine einfache Frage, die sich zwangsläufig ergibt aus diesen 75 Minuten "Hart aber fair": Kann es sein, dass der deutsche Staat Kevin-Dustin und Aishe nur deswegen mit ihrer "Bildungsferne" allein lässt, damit Justus in Ruhe sein Abi machen, studieren und dann Papas Apotheke übernehmen darf? Das mag wie Polemik klingen. Aber es ist faktenbasierte Polemik.

Tod durch Arbeitslosigkeit?

Laut Forschern des Rostocker Max-Planck-Instituts besteht zwischen Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit oder einer geringen Bildung und einem vorzeitigen Tod eine Verbindung.
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