Die Razzia im Reichsbürger-Milieu und der geplante Umsturzversuch durch Anhänger der Szene war am Sonntagabend Thema bei Anne Will. Zu Gast: Amtierende und ehemalige Innenminister. Das Gefahrenpotenzial stufte das Studio ähnlich ein, Reibereien hingegen gab es bei der Frage, ob die Sicherheitsbehörden ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus haben.
Früher Mittwochmorgen: Rund 3.000 Polizisten und Spezialeinsatzkräfte rücken zu einer der größten Razzien der Geschichte der Bundesrepublik aus. Ihr Ziel: Verschwörungsideologen und Reichsbürger stoppen, die einen gewaltsamen Umsturz planten. An ihrem Ende sollte eine neue Regierung unter dem Adeligen Heinrich VIII. stehen.
Das ist das Thema bei "Anne Will"
Gegen zahlreiche Personen wurde am Mittwoch ein Haftbefehl vollstreckt, ihnen wird die Mitgliedschaft oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.
Das sind die Gäste
Nancy Faeser (SPD): "Die Gefahr war sehr ernst zu nehmen", sagte die Bundesinnenministerin mit Blick auf den vergangenen Mittwoch. Es habe sehr genaue Planungen gegeben, in den Bundestag einzudringen und es habe Vorbereitungen für eine mögliche neue Regierung gegeben.Janine Wissler (Linke): Die Parteivorsitzende sagte: "Auch wenn die Pläne größenwahnsinnig und wirr klingen, heißt es nicht, dass sie nicht gefährlich sind." Die Reichsbürger-Szene sei durch und durch rechtsextrem, rassistisch, antisemitisch und demokratiefeindlich. Dass die Gruppe mit Mitgliedern in die Sicherheitsbehörden hineinreiche, sei besonders problematisch. Der Umgang mit rechten Chat-Gruppen in den vergangenen Jahren sei nicht konsequent genug gewesen. "Hier habe ich den Eindruck, dass die Innenminister in den Ländern in den letzten Jahren vieles kleingeredet haben", sagte Wissler.- Gerhart Baum (FDP): "Sie wollen unsere Demokratie zerstören", warnte der ehemalige Bundesinnenminister vor der Reichsbürger-Szene. Man dürfe den Blick nicht nur auf die jetzt betreffende gewalttätige Gruppe richten, es gebe weitere mit demselben Ziel. "Die Gefahr ist, dass die Mitte infiziert wird", sagte Baum. Im Unterschied zur RAF sei die Akzeptanz für rechte Ideen in der Bevölkerung größer. "Hier gibt es Leute, die fangen an, das Volk zu erreichen und das macht mir Sorgen", sagte Baum.
- Herbert Reul (CDU): Der Innenminister von NRW sagte: "Es waren mehr als Spinnereien." Es entstehe im Netz ein Gebräu, das zu Taten führen könne. Die Politik müsse sich auch fragen: "Kümmern wir uns eigentlich um die Sorgen der Menschen? Nicht in irgendwelchen Reden. Die Menschen wollen wissen, dass wir deren Sorgen ernst nehmen und etwas tun", so Reul.
- Florian Flade: Investigativ-Journalist und Reichsbürger-Kenner "Es ist eine Vernetzung von Menschen unterschiedlicher Milieus, die da zusammengekommen ist." Es sei schwierig, bei der Einstufung der Gefährlichkeit immer von dem "Endziel" der Gruppe auszugehen. Terroristische Vereinigungen würden selten ihr Ziel erreichen, auf dem Weg dahin aber morden. "Wir sind nicht von einer Behörde oder einem Ministerium eingespannt worden", stellte der Journalist mit Blick auf das Zusammenwirken von Politik und Medien bei der Razzia klar.
Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"
Anne Will wollte von Investigativ-Journalist Flade eine genauere Einordnung der einzelnen Mitglieder der vermeintlichen Terrorzelle. "Was verbindet die?" fragte sie. Flade antwortete: "Eine Staatsfeindlichkeit, eine Demokratiefeindlichkeit." Weiter führte er aus: Es seien antisemitische Elemente dabei und Gedankengut aus Verschwörungstheorien wie der Q-Anon-Bewegung. "Da sind Menschen dabei mit sehr gebrochenen Biographien, da sind Menschen dabei, die sich offenbar in der Corona-Pandemie radikalisiert haben", so der Kenner der Reichsbürger-Szene.
Deutschland sei, wie auch die Amerikaner, mittlerweile an dem Punkt, dass man von "Mischszene" oder "Salat-Bar-Extremismus" spreche, weil man keine Kategorien mehr für die Personen habe. Die Sicherheitsbehörden könnten die Personen nicht mehr klar Bereichen wie Rechts- oder Linksextremismus zuordnen. "Da entsteht etwas Gefährliches, auch wenn man es noch nicht so genau definieren kann. Aber die haben einen gemeinsamen Nenner, gemeinsame Begrifflichkeiten."
Das ist das Rede-Duell des Abends
"Natürlich haben wir ein strukturelles Problem", sagte Janine Wissler, als sie nach Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden gefragt wurde. Es werde kleingeredet und immer nur von Einzeltätern gesprochen. "Es werden sich nicht die dahinterliegenden Netzwerke angeschaut", kritisierte sie. Baum entgegnete: "Sie können das nicht verallgemeinern. Herr Haldenwang [Chef des Verfassungsschutzes, Anm.d.Red.] und seine Behörde machen eine gute Arbeit."
Einen Generalverdacht könne man nicht äußern, das habe der Chef des Verfassungsschutzes auch bekräftigt. Wissler nahm den Ball noch einmal auf: "Es geht nicht um Generalverdacht." Es gebe eine Vernetzung zwischen den Bundesländern und zwischen unterschiedlichen Einheiten der Sicherheitsbehörden.
So hat sich Anne Will geschlagen
Anne Will verharrte ein wenig zu lange bei dem Gesprächsstrang der Gefahreneinschätzung. "Wie groß war die reale Gefahr?", "Handelt es sich um eine echte Terrorzelle?" und "Wird die Gefahr überbewertet" wollte sie beispielsweise wissen und bekam darauf aber immer ähnliche Antworten. Das ging auf Kosten der Fragen: "Was verbindet die Mitglieder?", "Was ist da schiefgelaufen, dass ein so breiter Kreis vorab informiert war?" und "Hat die Polizei ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus?"
Eine Frage wurde am Sonntagabend außerdem gar nicht gestellt: "Wie geht es nun weiter?"
Das ist das Ergebnis bei "Anne Will"
Einiges müssen Untersuchungen und Ermittlungen noch zeigen, schon jetzt aber war klar: Von der Reichsbürger-Szene geht eine reale Gefahr aus. Dabei wiesen Baum und Flade richtigerweise darauf hin, dass der Fokus nicht nur auf einem gewaltsamen Umsturz liegen darf. Das Gefahrenpotenzial fängt viel früher an: Bei der Infiltrierung der Gesellschaft mit rechtem, antisemitischem und rassistischem Gedankengut.
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