75 Jahre Nato: Der Gipfel in Washington sollte eine Jubiläumsparty sein, doch gibt es angesichts des Ukraine-Konflikts Anlass zum Feiern? Markus Lanz lud am Donnerstag im ZDF zu einer spannenden Geschichtsstunde.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Doris Neubauer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Jubiläumsgipfel zum 75. Geburtstag der Nato in Washington stand ganz im Zeichen des Ukraine-Konflikts: Während die Bündnisstaaten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj militärische Unterstützung bis zum Sieg gegen Russland zusicherten, wünschen sich hierzulande viele Deutsche diplomatische Lösungen. Kürzlich sorgte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban mit Überraschungsbesuchen bei Selenskyj, Wladimir Putin und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping für Schlagzeilen. Die Sinnhaftigkeit von solchen Initiativen im Alleingang sind umstritten.

Auch bei "Markus Lanz" (ZDF) war man sich am Donnerstagabend einig: Diplomatische und militärische Instrumente müssen ineinander greifen - und vieles ist eine Frage des Timings.

Das ist das Thema bei "Markus Lanz"

Der Nato-Gipfel in Washington, D.C. wäre ein Wendepunkt in der Ukraine-Unterstützung, betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach dem Jubiläumstreffen der Sicherheitsgemeinschaft. Die Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses versprachen in einer Erklärung, bis zum Sieg gegen Russland zu kämpfen. Der Kampf der Ukraine für ihre Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität trage direkt zur euroatlantischen Sicherheit bei, hieß es in der Erklärung.

Innerhalb des nächsten Jahres würden die Bündnisstaaten dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj Militärhilfen im Wert von insgesamt 40 Milliarden Euro zukommen lassen. Deutschland hat für das laufende Jahr bereits acht Milliarden Euro zugesagt und sein Soll daher vorerst erfüllt. Hoffen darf die Ukraine zudem auf eine künftige Mitgliedschaft im Bündnis - ein Versprechen, das bereits in der Vergangenheit gegeben, aber bis heute nicht eingehalten wurde.

Was die zugesicherte Unterstützung, aber auch die Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine bedeutet, darum ging es unter anderem bei Markus Lanz am Donnerstag. Außerdem sprach er mit seinen Gästen über die Gründe für den Bruch zwischen der Nato und Wladimir Putin, das Potenzial von diplomatischen Initiativen - und darüber, welche Lehren für Konfliktlösungen man aus den Jugoslawien-Kriegen ziehen konnte.

Das sind die Gäste

  • Michael Roth, SPD-Außenpolitiker: "Wir müssen uns in der Nato endlich mal entscheiden: Wollen wir wirklich einen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass die Ukraine eine realistische Chance hat, frei, unabhängig, demokratisch zu sein?"
  • Marie-Janine Calic, Historikerin: "Die Folge des ungerechten Friedens, den man mit Feinden, mit Aggressoren schließt, ist, dass Konflikte weiter gären."
  • Rüdiger von Fritsch, Ex-Botschafter: "Hier (Viktor Orban, Anm. d. Red.) ist kein Diplomat unterwegs, hier ist eine Krämerseele unterwegs."
  • Rolf Nikel, Ex-Diplomat: "Der früher US-Präsident Teddy Roosevelt hat gesagt: 'Spreche sanft, aber habe einen dicken Knüppel', und ich glaube, das ist für die internationale Diplomatie, die echten Frieden will, absolut notwendig."
Zu Gast bei Markus Lanz waren, von links: Michael Roth, Marie-Janine Calic, Rüdiger von Fritsch und Rolf Nikel. © ZDF/Markus Hertrich

Das ist der Moment des Abends bei "Markus Lanz"

"Haben wir einen Anlass zu feiern?", fragte Rüdiger von Fritsch berechtigterweise angesichts der militärischen Situation in der Ukraine. Doch er hatte gleich eine Antwort parat: Im Laufe ihrer 75-jährigen Geschichte wäre die Nato schon viel schlechter dagestanden. Vielmehr hätte "Putin eines geschafft: Die Nato zu einer neuen Geschlossenheit geführt", bezog er sich unter anderem auf die Aufnahme von Schweden und Finnland in die Sicherheitsgemeinschaft.

Kritischere Worte fand SPD-Außenpolitiker Michael Roth: "Ich hoffe, dass der Jubiläumsgipfel nicht nur ein Gipfel des Feierns ist, sondern auch ein klares, ehrliches Bekenntnis abgibt." Er forderte angesichts der prekären Lage in der Ukraine "endlich mal" eine Entscheidung der Nato: "Wollen wir wirklich einen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass die Ukraine eine realistische Chance hat, frei, unabhängig, demokratisch zu sein?"

Die Unterstützung wäre zwar stark, aber nicht stark genug. Der US-Präsident hätte "generöserweise" ein weiteres Patriot-System zur Verfügung gestellt. Deutsche Regierungsvertreter wären "monatelang durch Europa gezogen wie Bittsteller" und hätten alle um Luftabwehrsysteme gefragt, "damit wir furchtbare Bilder wie jüngst in Kiew verhindern können". Es ginge nicht darum, "eroberte Gebiete zu befreien, sondern Menschenleben zu schützen".

Das ist das Rede-Duell des Abends

Rüdiger von Fritsch hatte begonnen, über die abenteuerliche Flucht seines Vetters Thomas samt zweier Freunde aus der DDR im Jahr 1974 zu berichten. Da hielt er in der Erzählung inne: "Man erkennt es kaum, aber so habe ich auch mal ausgesehen." Schlagartig richteten sich alle Augen das Schwarzweiß-Foto eines sichtlich schlaksigen, langmähnigen jungen Mannes, der mit verschlafenem (oder berauschtem?) Blick in die Kamera blinzelt. "Das sind Sie?", fragte Lanz mit gespielter Verwunderung. "Da war Cannabis ja noch gar nicht legalisiert. Das ist ja verrückt." Und Michael Roth konnte sich einen Kommentar ebenso wenig verkneifen: "Herr Fritsch, Sie überraschen mich heute."

Überraschend war auch, wie der Ex-Botschafter schilderte, dass er einst "von Hand" die Pässe der drei Ostdeutschen gefälscht hatte und diese als "westdeutsche Hippies" von Bulgarien in die Türkei schleusen wollte. Und das am Tag des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft im Juli 1974, an dem die Welt inklusive der bulgarischen Grenzbeamten nach München schaute.

"Ich finde meine Fälschung schöner", zeigte sich Fritsch stolz, als bei Lanz die originalen und gefälschten Pässe zu sehen waren. Trotzdem scheiterte die Aktion im ersten Anlauf. Zum Glück für die Neo-Fluchthelfer, hatten sie doch keine fluoreszierenden Stempelfarben verwendet und wären sicher verhaftet worden. Der zweite Versuch vierzehn Tage später gelang. "Eine schöne Geschichte, die zeigt, was Menschen bereit sind zu tun, um frei und selbstbestimmt zu leben", wurde Lanz fast schon sentimental, fügte dann aber mit einem Augenzwinkern hinzu: "Und für mich besonders inspirierend, weil ich nie dachte, dass dieser sehr korrekte Herr hier so viele kriminelle Energien besitzt."

Das letzte Wort hatte aber nicht er, sondern von Fritsch - oder vielmehr Hans-Dietrich Genscher, den der Ex-Botschafter zitierte: "Als der davon erfahren hat, hat er gesagt: 'Wenn wir das bei Ihrer Einstellung gewusst hätten, hätten wir Sie ins Ministerbüro geholt. Da brauchen wir kreative Leute.'"

So hat sich Markus Lanz geschlagen

Markus Lanz war in der Sendung voll in seinem Element. Statt bei Wortgefechten eingreifen oder Schrei-Duelle schlichten zu müssen, konnte er sich auf das konzentrieren, was ihm besonderen Spaß zu machen scheint: das Wissen von Politik- und Geschichtskennern aufzusaugen.

Das ist das Fazit bei "Markus Lanz"

Trotz der inspirierenden Familiengeschichte mit Happy End hinterließ die Sendung ein flaues Gefühl: "Der reife Moment ist noch nicht eingetreten in diesem Krieg", analysierte Historikerin Calic die Situation in der Ukraine. Dabei handele es sich um den kritischen Moment, "wenn sich auf beiden Seiten die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Fortführung des Kriegs keine Vorteile bringt".

Erst dann könnten ernsthafte diplomatische Bemühungen um eine Friedenslösung beginnen. Alleingänge wie die des ungarischen Ministerpräsidenten Orban wären kontraproduktiv. Vielmehr müsste nicht nur die Ukraine substanziell mit mehr Waffen beliefert, sondern vor allem wirtschaftlicher und finanzieller Druck auf Russland ausgeübt werden. "Die Botschaft - lieber Freund, das geht ins Portemonnaie - wird drüben verstanden", brachte es von Fritsch auf den Punkt. "Er (Putin, Anm. d. Red.) weiß, seine Mittel sind nicht unendlich. Den Punkt fürchtet er. Bis dahin müssen wir durchhalten."

Doch selbst dann gäbe es weitere Herausforderungen, denn Opfer müssten einen "ungerechten Frieden hinnehmen", wie Calic betonte. Die Folge solcher Kompromisse wären weiter gärende Konflikte wie in den Balkanstaaten - oder "die Fortführung des Kriegs mit nicht-militärischen Mitteln". Der Krieg in der Ukraine hätte diese Konflikte genauso verschärft wie hinausgezögerte Aufnahmeverfahren der Europäische Union. Auch die Abwanderung hochqualifizierter junger Arbeitskräfte destabilisierte die Region weiter, warnte Roth vor einem "großen Konfliktpotenzial".  © 1&1 Mail & Media/teleschau

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