Die Zahl der Rettungseinsätze steigt seit Jahren – obwohl nicht jede Fahrt nötig wäre. Die Bundesregierung will den Rettungsdienst entlasten und vereinheitlichen. Doch es gibt Widerstand.
Es ist etwas faul im deutschen Rettungswesen. Erklären lässt sich das an einem Beispiel: Der Blasenkatheter einer dementen Pflegeheim-Bewohnerin ist verstopft, die Frau hat starke Schmerzen. Der Rettungsdienst wird alarmiert und bringt sie ins Krankenhaus, wo der Blasenkatheter gewechselt wird. So weit, so normal?
Nicht unbedingt. Denn der Blasenkatheter könnte in vielen Fällen auch vor Ort gereinigt oder gewechselt werden – von der Pflegekraft oder einem Sanitäter. Stattdessen wird die Frau aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, erleidet zu den Schmerzen auch noch Stress. Die Besatzung des Rettungswagens ist blockiert, obwohl sie womöglich woanders dringender gebraucht wird. Und auch die Notaufnahme hat einen Patienten mehr, der nicht unbedingt ein Fall fürs Krankenhaus wäre.
Mehr Einsätze, große Fluktuation im Rettungsdienst
Dieses Beispiel ist ausgedacht, aber diese Fälle tragen sich so oder ähnlich immer wieder zu. Das Beispiel mit dem Blasenkatheter fällt in Gesprächen über die Probleme des Rettungsdienstes jedenfalls immer wieder. Die Zahl der Einsätze steigt – und damit auch die Kosten für die Krankenversicherung. Sie beliefen sich im vergangenen Jahr auf 8,7 Milliarden Euro. Zudem sind die Zuständigkeiten zersplittert und unübersichtlich, die Rettungsleitstellen nicht ausreichend untereinander vernetzt, das System insgesamt ineffektiv und überlastet.
"Es gibt im Gesundheitssystem keine größere Ressourcenverschwendung als im Rettungsdienst", sagt Marco K. König, Vorsitzender des Berufsverbands Rettungsdienst, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Das hat Folgen. Nicht nur für die Behandlung der Patientinnen und Patienten, sondern auch für Sanitäterinnen und Ärzte. Die Branche klagt über Personalmangel. "Wir haben im Rettungsdienst eine schlimme Fluktuation", sagt König. "Viele Kollegen sind müde und frustriert. Sie hören wieder auf, weil sie merken, dass das nicht der Beruf ist, den sie sich erhofft haben."
Sind also die Menschen das Problem, die den Rettungsdienst rufen, auch wenn es nicht nötig wäre? "Wenn der Rettungsdienst überlastet ist, dann ist das nicht die Schuld der Menschen, die in Notsituationen Hilfe rufen", sagt Janosch Dahmen im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete ist gesundheitspolitischer Sprecher seiner Fraktion und hat früher selbst als Notarzt gearbeitet. Der Fehler ist aus seiner Sicht eine unzureichende gesetzliche Regelung. "Wir müssen mit den Köpfen und Ressourcen besser haushalten, wir brauchen ein effizienteres und besser abgestimmtes System."
Die Frage aber lautet: Wie könnte es aussehen?
Unstrittig: System braucht bessere Steuerung
Menschen mit medizinischen Problemen können sich auf zwei Wegen Hilfe suchen: In lebensbedrohlichen Situationen rufen sie den Notruf 112 an, in nicht lebensbedrohlichen Situationen dagegen den Ärztlichen Bereitschaftsdienst unter 116-117. Allerdings ist es unter der 116-117 häufig schwieriger, schnell jemanden ans Telefon zu bekommen. Und die Entscheidung, ob ein Fall lebensbedrohlich ist oder nicht, fällt Betroffenen in der Hektik oft schwer.
Politiker aus Regierung wie Opposition sprechen sich daher für eine Zusammenschaltung von beiden Nummern aus: Die Person, die den Anruf entgegennimmt, kann dann entscheiden, was im konkreten Fall zu tun ist. "Wir brauchen eine bessere Steuerung und Lenkung, damit nicht jeder in einer All-Inclusive-Mentalität die Notaufnahmen der Krankenhäuser verstopfen kann", sagt Sepp Müller, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, unserer Redaktion.
Im komplexen Gesundheitswesen wäre das allerdings ein größerer Eingriff. Grünen-Politiker Dahmen schlägt vor, das Sozialgesetzbuch V zu ändern. "Nicht jeder Mensch muss nach einem Notfall ins Krankenhaus, manches lässt sich besser auch am Einsatzort direkt lösen", sagt Dahmen. Das müsse dann aber gesetzlich geregelt und vergütet werden. "Dazu muss der Rettungsdienst zum Teilanspruch der Gesundheitsversorgung werden."
Dahmen dringt auch auf einheitlichere Vorgaben. Die gesetzlichen Regelungen hätten mit der Entwicklung des Gebiets nicht Schritt gehalten. "Die Folge ist nicht nur ein regionaler Flickenteppich, sondern eine gefährliche Gleichzeitigkeit von Unter-, Fehl- und Überversorgung in der Akut- und Notfallmedizin. Darunter leider Patienten und Personal gleichermaßen."
Die Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP sind sich Dahmen zufolge einig: Neue gesetzliche Regeln sind überfällig. Im Januar hat Bundesgesundheitsminister
Zuständig wären eigentlich die Länder
In der Union kritisiert man allerdings, dass eine isolierte Notfallreform zu früh kommen würde. Schließlich arbeitet Lauterbach auch an einer Krankenhausreform – und die würde wohl auch die Kliniklandschaft verändern. "Der Bundesgesundheitsminister knöpft die Jacke von Anfang an falsch zusammen. Zuerst muss es eine Krankenhausreform geben, damit klar ist, welche Umbauten und Abteilungen an den einzelnen Standorten nötig sind", sagt Sepp Müller.
Hinzu kommt: Für Krankenhausplanung und die Organisation des Rettungsdienstes sind in Deutschland die Länder zuständig. Und die lassen sich in solche Angelegenheiten ungern "reinreden".
Bayerns Innenminister
Herrmann erwartet nun, dass der Bund die Länder in eine Reform einbezieht. "Von vornherein ist es ausgeschlossen, dass der Bund eigenständig Festlegungen trifft, die in die Zuständigkeit der Länder fallen."
Mehr Verantwortung für Notfallsanitäter
Schon länger versuchen auch Länder und Kommunen, die Rettungsdienste zu entlasten. Mehrere Landkreise haben Gemeindenotfallsanitäter im Einsatz. Sie helfen bei medizinischen Problemen, ohne dass ein Transport mit dem Rettungswagen nötig wird – und rechnen mit der Krankenkasse ab. "Das ist ein überzeugendes Projekt, das für den gesamten ländlichen Raum ausgerollt werden kann", findet CDU-Politiker Müller.
Nötig ist aber auch eine größere Attraktivität des Berufs. Grünen-Politiker Dahmen will den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rettungsdienste zudem mehr Befugnisse übertragen. "Ich bin nicht nur als Politiker, sondern auch als Arzt überzeugt, dass unser Gesundheitssystem bisher zu arztzentriert ist", sagt er. Wenn die Sanitäterinnen und Sanitäter vor Ort mehr Hilfe leisten dürfen, könnte das unnötige Transporte ins Krankenhaus vermeiden.
Verbandschef Marco K. König zufolge geht bei diesem Thema aber seit Jahren wenig voran. Bereits 2014 ist das Notfallsanitätergesetz in Kraft getreten. Entsprechend ausgebildete Rettungskräfte dürfen seitdem etwa Medikamente geben oder einen intravenösen Zugang legen.
Allerdings ist das alles aus Sicht von König noch häufig Theorie. In der Praxis würden immer noch die Ärztlichen Leiter der Rettungsdienste entscheiden, was die Sanitäterinnen und Sanitäter vor Ort machen dürfen. "Es gibt noch kein einziges Bundesland, das das Notfallsanitätergesetz zu 100 Prozent umgesetzt hat."
Er ist überzeugt: Mehr Befugnisse und Verantwortung würden den Beruf attraktiver machen. "Wenn man die Notfallsanitäter ihre wirklichen Aufgaben machen lässt, wäre die Fluktuation geringer."
Verwendete Quellen
- Gespräche mit Marco K. König, Janosch Dahmen und Sepp Müller
- Stellungnahme des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration
- Bundesgesundheitsministerium.de: Vorläufige Finanzergebnisse der GKV für das Jahr 2023
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