Lange wurde es erwartet, nun ist es eingetreten: Der ukrainische Präsident ordnet seine Regierung neu und entlässt mehrere Minister. Ein Politikwissenschaftler sieht dahinter eine Strategie.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am frühen Mittwochnachmittag trat der ukrainische Justizminister Denys Maljuska ans Rednerpult im Plenarsaal des ukrainischen Parlaments. Er verkündete sein Ende als Minister. Neben ihm wurde die Hälfte des Kabinetts ausgetauscht, darunter auch Außenminister Dmytro Kuleba.

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Überrascht waren die wenigsten von der Entscheidung. Seit Monaten wurde über eine Regierungsumbildung spekuliert. Zeitweise ging man sogar davon aus, dass neben Premierminister Denys Schmyhal auch das gesamte Kabinett ausgewechselt wird.

Das ist nicht eingetreten. Trotzdem bleibt die Frage, was hinter der Entscheidung steckt, die Hälfte des Kabinetts zu entlassen. Sicher ist: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj steht seit dem Scheitern der Sommeroffensive im vergangenen Jahr stark unter Druck.

Von der Popularität, die er zu Beginn des Krieges genoss, kann nun keine Rede mehr sein. Umfragen sehen den von Selenskyj entlassenen ehemaligen Armeechef Walerij Saluschnyj vor dem amtierenden Präsidenten – sollten beide zur Wahl für das Präsidentenamt stehen.

Ukraine-Forscher: "Selenskyj will neue Energie in die Regierung bringen"

Die aktuelle Lösung scheint ein Kompromiss zu sein. Dass Selenskyj nicht wie ursprünglich geplant das gesamte Kabinett inklusive Premier ausgewechselt hat, liegt am Kriegsrecht, das diesen Schritt nicht zulässt.

Bei den scheidenden Ministern handle es sich auch um solche, die amtsmüde seien, sagt Politikwissenschaftler Eduard Klein von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. "Selenskyj will neue Energie in die Regierung bringen. So hat er es erklärt und danach sieht es auch zunächst aus."

"Kuleba war amtsmüde und wollte schon länger seinen Rücktritt anbieten."

Eduard Klein, Ukraine-Experte

Zwischen Selenskyj und Außenminister Kuleba habe es beispielsweise immer wieder Probleme und Meinungsverschiedenheiten gegeben. "Kuleba war amtsmüde und wollte schon länger seinen Rücktritt anbieten", glaubt Klein. Für Kuleba stehe wahrscheinlich ein Wechsel in ein anderes Amt an. Spekuliert wird unter anderem darüber, ob er die Ukraine in der EU vertritt und in Brüssel dabei hilft, die Beitrittsbemühungen voranzubringen.

Opposition kritisiert Entmachtung des Parlaments

Die Opposition vermutet hinter dem Austausch allerdings auch eine Strategie. Demnach soll das Parlament immer weiter entmachtet werden, indem wichtige Offizielle wie Minister ersetzt werden, ohne dass es Neuwahlen gibt. Klein, der seit Jahren zur Ukraine forscht, hält das für durchaus stichhaltig. Schon nach seinem Amtsantritt 2019 habe der Präsident wichtige Vertraute aus seinem Umfeld in Schlüsselpositionen gebracht.

So wurde der Filmproduzent und Anwalt von Selenskyj, Andrij Jermak, 2020 Leiter des Präsidialamtes. In dieser Funktion wurde ihm bereits mehrfach vorgeworfen, unliebsame Personen und Kritiker aus wichtigen Positionen zu entfernen und mit Vertrauten zu ersetzen.

Im ersten Kriegsjahr wurden zahlreiche hochrangige Regierungsvertreter wegen des Vorwurfs, mit der russischen Armee kooperiert zu haben, von Jermak aus dem Amt entfernt. Damals warf ihm Witalij Schabunin, Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung, vor, er habe "nicht nur eine Menge Macht in seinen Händen", sondern auch den Zugang zum Präsidenten eingeschränkt und für seine eigenen Zwecke missbraucht.

"Wir erleben eine Konzentrierung der Macht"

Auch Ukraine-Experte Klein sieht Belege dafür, dass Jermak seinen Einfluss ausbaut: "Wir erleben eine Konzentrierung der Macht." So sollen immer mehr Jermak-Getreue in zentrale Positionen gebracht werden. Und wer etwas zu sagen haben will, tut gut daran, sich mit dem Leiter des Präsidialamtes gut zu stellen. Wichtiger als das formale Amt sei inzwischen der Zugang zum Präsidenten, der in der Tat von Jermak gesteuert wird, vermutet Klein.

Um den ukrainischen Präsidenten entstehe so ein Umfeld aus Ja-Sagern, argumentiert der Politikwissenschaftler von der Uni Bremen: "Ein wichtiges Kriterium beim Aufstieg in höhere Ämter und mehr Einfluss ist hierbei die Loyalität zum Präsidenten."

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Das sei zwar noch nicht auf einem Niveau, wie man es in Russland bei Wladimir Putin erlebe, aber trotzdem werde immer klarer: "Wer eine kritische Haltung gegenüber dem Präsidenten einnimmt oder dessen Politik kritisiert, muss sich darauf gefasst machen, aussortiert zu werden."

In Selenskyjs Partei tun sich Risse auf

Andersherum gelte: Wer das Vertrauen Selenskyjs genießt, muss sich wenig Sorgen machen, urteilt Klein: "Es gibt im Präsidentenbüro schwierige Personen wie Oleg Tatarow, dem immer wieder Korruption vorgeworfen wird, die in ihrer Position bleiben, weil sie anscheinend loyal sind."

Diese Politik orientiere sich maßgeblich daran, die Macht des Präsidenten zu stärken. Das mache sich auch in den eigenen Reihen bemerkbar. Selenskyjs Partei "Diener des Volkes" verfügt zwar über die Mehrheit im Parlament, trotzdem wurden die Rücktritte der Minister nicht von allen Abgeordneten bestätigt.

"Es tun sich Risse in Selenskyjs Partei auf", analysiert Klein. Er warnt vor einer schleichenden Entmachtung des Parlaments. Darauf solle der Westen ein Auge haben.

Über den Gesprächspartner

  • Eduard Klein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Sein Schwerpunkt ist die Ukrainische Politik und der Beitritt des Landes zur EU.
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