Militärische Misserfolge, das drohende Ausbleiben von US-Hilfen und dann auch noch Kritik aus dem eigenen Land: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat neben einem bestialischen Krieg dieser Tage mit vielen weiteren Problemen zu kämpfen. Kann ihm dies gefährlich werden? Zwei Experten ordnen ein.

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Seit nun fast zwei Jahren hält der Krieg in der Ukraine an – und große militärische Erfolge der ukrainischen Streitkräfte scheinen auszubleiben. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj steigt der Druck, denn gleichzeitig droht die Unterstützung der USA langsam zu bröckeln.

Dann wäre da noch das Problem mit den turnusmäßigen Wahlen, die im März 2024 anstünden. Selenskyj hatte sich bereits vor Monaten dagegen ausgesprochen, doch entschieden ist noch nichts.

Zusätzlich dazu nimmt die Kritik von innen zu: Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und der Militärchef Walerij Saluschnyj kommen mit schweren Vorwürfen um die Ecke: Der Präsident habe die drohende Invasion 2022 nicht ernst genug genommen.

Was bedeutet all dies für Selenskyj? Könnte ihm die Lage über den Kopf wachsen – und ihn am Ende sogar das Amt kosten? Ein Überblick.

Selenskyjs Ansehen in der Bevölkerung

Zu Beginn der Invasion stieg Selenskyj von einem teils belächelten Ex-Schauspieler zur Lichtgestalt der Weltpolitik auf. Und laut dem Politologen und Ukraine-Experten Mikhail Alexseev von der San Diego State University im US-Bundesstaat Kalifornien ist Selenskyj dies noch immer. Seit 2016 führt Alexseev gemeinsam mit dem Institut für Soziologie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften Meinungsumfragen durch – unter anderem mit der Frage nach dem Demokratieverständnis der Bevölkerung. In Fokusgruppen führen sie zudem tiefgreifendere Gespräche durch. "Diese zeigten deutlich, dass Selenskyj der leuchtende Stern bleibt", erklärt der Experte auf Anfrage unserer Redaktion. "Die Menschen schätzen und würdigen sein Engagement für die Verteidigung der Ukraine und sein Gespür für die einfachen Menschen."

Laut Alexseev erwartet man nicht, dass der Präsident "ein allmächtiger Gott oder Zar ist". Das Volk verstünde, dass er Fehler machen und dass er die Regierungsbeamten nicht kontrollieren oder die Korruption im Alleingang ausrotten könne. "Es sieht so aus, als hätten die einfachen Ukrainer ein intuitives Gefühl dafür, dass er zu ihnen stehen würde, egal was passiert. Und dass er, genau wie sie, manchmal zu Fehlern oder Fehlkalkulationen neigen würde." Eine Wahl in naher Zukunft würde Selenskyj nach Alexseevs Meinung nicht verlieren.

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Wahlen – ja oder nein?

Selenskyj hatte sich bereits dagegen ausgesprochen, im März Wahlen abzuhalten. Diskutiert wird darüber trotzdem noch immer. Selbst Vitali Klitschko sprach das Thema kürzlich in einem Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" an. Der Ukraine-Experte und Politologe Heiko Pleines von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen sieht in der Diskussion allerdings nur wenig Sinn. "Das ukrainische Kriegsrecht legt explizit fest, dass Wahlen nicht durchgeführt werden dürfen, wenn der Kriegszustand erklärt wurde", erläutert er auf Anfrage unserer Redaktion. Wahlen seien demnach rechtlich gar nicht möglich, sofern der Kriegszustand nicht aufgehoben würde.

Ähnlich sieht es Alexseev. "Der Hauptgrund dafür ist, dass etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums besetzt sind", sagt er. Wahlen würden demnach indirekt die illegalen territorialen Gewinne Russlands legitimieren.

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Klitschko und Saluschnyj – Kritiker und dennoch Unterstützer

Lange hatte man Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Ukraine weitestgehend totgeschwiegen. Doch Kiews Bürgermeister Klitschko hat dieses Schweigen kürzlich gebrochen. Im Interview mit "20 Minuten" sagte er: "Die Leute fragen sich, wieso wir auf diesen Krieg nicht besser vorbereitet waren. Wieso Selenskyj bis zum Schluss verneinte, dass es dazu kommen werde." Auch Militärchef Saluschnyj machte deutlich, dass das Verhältnis zwischen ihm und dem Präsidenten zunehmend angespannt ist. In einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin "The Economist" sprach er von einer Pattsituation im Krieg – was deutlich gegen Selenskyjs Aussagen spricht, der meist nur auf hohe Verluste auf Seiten des Feindes Russland hinweist.

Viele sehen in diesen Aussagen nun Ambitionen auf das Präsidentenamt. Aber könnten diese beiden denn wirklich eine Gefahr für Selenskyj sein?

Eher weniger, meint Pleines. "Klitschko ist in der Ukraine nicht so populär, dass er diese Rolle übernehmen könnte. Außerhalb Kiews spielen er und seine Partei kaum eine Rolle." Und Saluschnyj habe politische Ambitionen bisher immer verneint. "Das klingt für einen General ohne politische Aktivitäten oder Verbindungen, der von Selenskyj ernannt wurde, auch erst mal nicht unglaubwürdig", sagt der Experte.

Klitschko habe zwar vor der Gefahr des Autoritarismus gewarnt, meint der Politologe Alexseev dazu, aber er habe Selenskyj dennoch seine Unterstützung zugesagt, solange sich die Ukraine im Krieg befindet. Auch bei Saluschnyj sieht er keine Ambitionen auf Selenskyjs Amt. "Er wirkt auf mich wie ein engagierter militärischer Befehlshaber, dessen Hauptaugenmerk auf der Entsowjetisierung des ukrainischen Militärs und dessen Anhebung auf NATO-Standard liegt."

Militärische Misserfolge

Die Popularität Selenskyjs ist laut Pleines eingebrochen, weil sich die Erwartungshaltung der Bevölkerung geändert hat. "Während es am Anfang ein Erfolg war, die russische Invasion gestoppt zu haben, wurden – auch sehr offensiv von Selenskyj selbst – ab dem Spätsommer 2022 Erwartungen geweckt, dass bald die gesamte Ukraine, einschließlich der Krim, von russischer Besatzung befreit wird." Dass die Ukraine dieses Versprechen kurzfristig nicht einlösen kann, werde den Menschen nun bewusst.

Selenskyj hatte während der Sommeroffensive betont, dass es sich nicht um einen Hollywood-Film handle – und dass mit Rückschlägen gerechnet werden müsse. Und diese zeigen sich auch derzeit. In der vergangenen Woche konnten russische Truppen nord-westlich der ostukrainischen Stadt Bachmut massive Landgewinne machen und weiter in Richtung der Kleinstadt Tschassiw Jar vorrücken.

Für die Bevölkerung, der man mit der groß angelegten Gegenoffensive große Hoffnungen machte, ist dies ein großer Misserfolg. Doch Alexseev sagt: "Der Erfolg an der Front ist eine Frage der Interpretation." Der Ukraine sei es zwar nicht gelungen, Russland aus großen Teilen der besetzten Gebiete zu vertreiben, aber sie habe die russischen Angriffe nach Putins Massenmobilisierung im vergangenen Jahr und Anfang dieses Jahres abwehren können. "Man darf nicht vergessen, dass die Ukraine gegen einen Aggressor kämpft, der die dreifache Bevölkerungszahl, die zehnfache Wirtschaftskraft und immer noch eine enorme Überlegenheit bei Artillerie und Flugzeugen hat."

Unterstützung der USA weiter sicher?

Was die Unterstützung durch die USA angeht, meint Experte Alexseev, so gebe es politische Turbulenzen, und es könnte zu Verzögerungen kommen – "aber die überwältigende Mehrheit der Gesetzgeber im Kongress befürwortet die Fortsetzung der Hilfe für die Ukraine. Und in der Regel setzt sich die Mehrheit schließlich durch."

US-Präsident Biden hat zudem gerade erst am Dienstag ein neues Hilfspaket von 200 Millionen US-Dollar genehmigt. Man werde auch weiterhin an der Seite der Ukraine stehen, sagte er.

Zunächst geht es laut Pleines in Washington um einen innenpolitischen Machtkampf. Republikaner gegen Demokraten – schließlich stehen in den USA bald Präsidentschaftswahlen an. Gegen diesen Machtkampf könne Selenskyj erst einmal nicht ankommen.

Ähnliches gelte für EU-Mitgliedsländer wie Ungarn oder die Slowakei – und bald vielleicht auch die Niederlande. "Den entsprechenden Regierungsvertretern sind sowohl die Ukraine als auch internationales Recht offensichtlich egal, es geht um egoistische politische Motive. Die kann Selenskyj nicht neutralisieren", sagt Pleines.

Das heiße nicht, dass es bald keine Unterstützung mehr für die Ukraine geben wird. "Es heißt nur, dass die Frage im innenpolitischen Machtkampf entschieden wird und dass Selenskyj vielleicht einen kleinen Beitrag leisten kann, wenn der die öffentliche Meinung in den jeweiligen Ländern beeinflussen kann."

Zu den Gesprächspartnern:

  • Mikhail Alexseev ist Professor für Politikwissenschaft an der San Diego State University, wo er seit 2000 lehrt. Seine Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die Bewertung von Bedrohungen in zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Kriegen, ethnische Beziehungen, Nationalismus und Einwanderung in Russland/Eurasien, wobei er sich derzeit besonders mit den soziopolitischen Auswirkungen des militärischen Konflikts um die Ostukraine beschäftigt.
  • Heiko Pleines leitet seit 2008 den Arbeitsbereich Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er lehrt Integrierte Europa-Studien und Politikwissenschaft. Bereits seit den 1990er Jahren forscht Pleines zur Ukraine. Zudem war er als Gastwissenschaftler etwa in Kiew, Harvard und Moskau eingeladen. Er ist zudem Mitherausgeber der Länder-Analysen der Bundeszentrale für politische Bildung.

Verwendete Quellen:

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