• Die russischen Streitkräfte sind angezählt, Putin braucht dringend neue Soldaten.
  • Doch eine generelle Mobilmachung will der Kreml-Chef nicht ausrufen.
  • Warum und wie der Kreml stattdessen verdeckt Nachwuchs für die Front rekrutiert, erklärt Politikwissenschaftler Tobias Fella.

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Zuverlässige Zahlen gibt es nicht: Wie hoch die Verluste der ukrainischen und russischen Streitkräfte seit Beginn des Krieges Ende Februar sind, ist unklar. Das ukrainische Verteidigungsministerium macht dazu immer wieder Angaben, doch sie sind mit einer Unsicherheit behaftet.

Zuletzt schätzte das britische Militär die Zahl gefallener russischer Soldaten bei einer ursprünglichen Angriffsstärke von 300.000 auf 25.000 Tote, Zehntausende Verwundete kommen noch hinzu. Der Kreml macht derweil ein großes Staatsgeheimnis aus der Zahl der Toten. Als die Ukraine schon von 20.000 russischen Gefallenen sprach, gestand Moskau in den ersten Kriegswochen nur 1.351 Todesopfer öffentlich ein.

Bislang keine Generalmobilmachung

Dabei ist sich Politikwissenschaftler Tobias Fella sicher: "Es gibt schwere Verluste." Er selbst rechnet mit insgesamt 60.000 Ausfällen, die zum Teil ersetzt werden konnten. Ungefähr zwei Drittel der Bodentruppen befänden sich im Ukraineeinsatz.

"Die russischen Streitkräfte sind überdehnt. Ohne Generalmobilmachung werden sie kaum dazu ausreichen, die Ukraine insgesamt niederzuringen und zu besetzen", sagt er. Eine solche Generalmobilmachung hat Putin bislang nicht ausgerufen. Sie würde bedeuten, dass alle aktiven und teilaktiven Soldaten in den Kampfeinsatz ziehen.

Warum Putin sie verhindern will

Anders als bei einer Teilmobilmachung, bei der lediglich Teile von Armee, Luftwaffe und Marine herangezogen werden, sind bei einer Generalmobilmachung alle verfügbaren Streitkräfte betroffen. Eine solche Ansage war für Putins Rede am 9. Mai erwartet worden, doch sie blieb aus. Mindestens zwei Millionen Russen sollen Teil der Reserve des Landes sein, genaue Zahlen gibt es nicht.

"Er möchte eine Generalmobilmachung verhindern, da diese seine Botschaft, dass in der Ukraine eine 'spezielle Militäroperation' und kein Krieg stattfindet, erodieren lassen würde", ist sich Fella sicher. Zudem würde Putin mit einer Generalmobilmachung seinen Einsatz erhöhen. "Er könnte größeren öffentlichen Druck erwarten, wenn sich die Ereignisse in der Ukraine nicht im kremlschen Sinne entwickeln", sagt der Experte.

Unterstützung aus der Bevölkerung

Ohne formelle oder verdeckte Generalmobilmachung seien aber keine großen Fortschritte in der Ukraine möglich. Die Fortschritte beschränkten sich auf den Donbass oder Verteidigungsoperationen. "Die Kalkulation könnte sich jedoch ändern, wenn der westliche Nachschub an Waffen und Munition in die Ukraine verebbt", meint Fella weiter.

Die Zustimmung für Putin in der Bevölkerung sei weiterhin hoch, auch der Glaube an einen Sieg in der Ukraine und negative Einstellungen zur USA, Nato und EU bestünden fort. "Sorgen vor Tod und Zerstörung sind dabei aber auch vorhanden", merkt Fella an. Die große Unterstützung erkläre sich auch teilweise damit, dass bislang kaum hochrangige russische Offizielle aus Protest gegen die Ukrainepolitik von ihren Positionen zurückgetreten seien.

Putin lockt mit Geld

"Schließlich kontrolliert Putins Regierung weitgehend die russischen Medien", sagt Fella. Die eigene Bevölkerung bekomme daher nur ein Bild des Krieges zu sehen, bei dem Russland auf der richtigen Seite der Geschichte stehe. "In Russland gibt es sogar Crowdfunding-Kampagnen, die darauf abzielen, die eigenen Soldaten mit Gerät und Nahrung auszustatten", sagt Fella. Eine Generalmobilmachung könne die Stimmung in der Bevölkerung aber mittel- und langfristig verändern.

Daher fährt der Kreml andere Geschütze auf: Putin hat nicht nur die Altersgrenze von 40 Jahren für Berufssoldaten auf 65 angehoben, sondern zahlt auch mehr Sold: Umgerechnet mindestens 3.000 Euro im Monat – teilweise das Siebenfache des Durchschnittsgehalts. Familien werden mit sechsstelligen Schadenszahlungen im Todesfall überzeugt, Vorladungen an Reservisten zur Überprüfung ihrer Personendaten per Post verschickt.

Wer erscheint, soll laut Berichten von Menschenrechtlern dazu gedrängt werden, Verträge zu unterzeichnen, mittels denen man ohne Training in den Kampf geschickt werden kann. "Putin lockt mit Geld, um Verluste aufzufüllen. Es gibt in Russland Onlineanzeigen von lokalen Rekrutierungsbüros. Zudem schaltet Russland nach Informationen der "New York Times" auf globalen Jobbörsen vielfach Anzeigen, bei denen nach Personal mit militärischer Erfahrung gesucht wird", weiß auch Fella.

Der angebotene Verdienst sei dabei nicht selten höher als der russische Durchschnittslohn. "Wahrscheinlich möchte man neben Kriegsenthusiasten, Patrioten und Nationalisten auch jene ansprechen, die im Zuge der Sanktionen ihre Jobs verloren haben und ihren Verdienstausfall kompensieren wollen", schätzt der Experte. Auch jene könnten angesprochen werden, die sich verschuldet haben und einen Abbau ihrer Schulden anstreben würden.

Rolle ethnischer Minderheiten

"Die angebotenen Verträge sind bisweilen auf eine Laufzeit von wenigen Monaten begrenzt, womöglich um ein geringeres Risiko zu suggerieren", sagt der Experte. Auch ethnische Minderheiten spielten dabei eine Rolle. "Es ist möglich, dass Putin auf Soldaten aus ärmeren Regionen wie Dagestan und Burjatien zurückgreift, da diese nicht über den finanziellen und politischen Einfluss wie ihre Pendants aus Moskau oder St. Petersburg verfügen", meint Fella.

Aus den westlichen Metropolen drohe Putin derweil die größte Gefahr. "Dort ist das Lohn- und Bildungsniveau höher und auch die Kenntnisse sind größer, wie man Zugang zu westlichen Medien trotz Verboten finden kann", erklärt Fella. Das Militär biete dabei gerade für ärmere Menschen die Chance auf einen geregelten Lohn und Prestige.

Von der Haft in den Krieg

"Weiterhin gibt es vereinzelt Berichte, dass es in Tschetschenien etwa inhaftierten Kleinkriminellen und Kriegskritikern ermöglicht wird, durch eine Frontbewährung ihre Haftstrafe zu vermindern oder zu tilgen", sagt der Experte. In den russisch-besetzten Gebieten in Luhansk und Donezk gestalte sich die Lage dagegen anders. "Hier besteht eine Wehrpflicht für Männer zwischen 18 und 65 Jahren und hier sind auch die Verlustzahlen hoch", erklärt Fella.

Ihre Höhe habe bislang aber keine größeren Auswirkungen, da die Soldaten dort erst seit relativ kurzer Zeit über russische Pässe oder Pässe der Volksrepubliken verfügten. "Im Grunde stirbt dort kein 'klassischer' russischer Soldat aus der Russischen Föderation, sondern ein entfernterer Angehöriger aus der angeblichen 'Russischen Welt'", kommentiert Fella.

Sorge vor separatistischen Bewegungen

Im Einsatz von ethnischen Minderheiten stecke aber auch eine Gefahr. "Bilden diese ethnisch homogene Einheiten, könnten sie einmal die Basis für separatistische Bewegungen bilden", sagt der Politikwissenschaftler.

Die Verluste an Mannstärke sind aber nicht Putins einziges Problem: "Es wird von einer hohen Zahl an verlorenen oder ausgefallenen Panzern, gepanzerten Kampffahrzeugen, anderen militärischen Fahrzeugen, sowie Dutzenden verlorenen oder ausgefallenen Flugzeugen und Helikoptern ausgegangen", beschreibt Fella den Zustand der russischen Streitkräfte. Große Bestände von Marschflugkörpern und ballistischen, taktischen Raketen seien auf die Ukraine abgefeuert worden und müssten nachgerüstet werden.

Fokus auf hybride Methoden?

"Es wird daher Zeit benötigen und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben fordern, um vor allem den Verlust an Material zu kompensieren", analysiert er. Es sei möglich, dass Moskau seine materiellen Verluste kurz- und mittelfristig durch einen Fokus auf hybride Methoden oder die Drohung mit Nuklearwaffen wenigstens teilweise kompensiere. "Beispielsweise im Hinblick auf das Baltikum", kommentiert Fella.

All seine militärischen Kräfte könne Russland derweil aus Sicht von Fella nicht in die Ukraine werfen, das Militär sei auch an anderen Stellen gebunden. "Eine Sorge dabei ist, dass eine große Verlegung von Kräften in die Ukraine von zum Beispiel separatistischen und terroristischen Bewegungen innerhalb der Russischen Föderation ausgenutzt wird", erklärt der Experte.

Zur Person:
Tobias Fella ist sicherheitspolitischer Referent des Hamburger Haus Rissen. Zuvor war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Stiftung Wissen und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Russische Außen- und Sicherheitspolitik, neue Militärtechnologien und der Formwandel des Krieges sowie soziale Medien und Desinformationskampagnen.

Verwendete Quellen:

  • Spiegel.de: So funktioniert Putins verdeckte Mobilmachung
  • Tagesschau.de: Hinweise auf verdeckte Mobilmachung
  • The New York Times: Desperate for Recruits, Russia Launches a ‘Stealth Mobilization’
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