Der schwedische Armeechef warnt vor russischen Machtambitionen in der Ostsee, kurz darauf sorgen verschwundene Bojen und eine russische Gesetzesinitiative zur Veränderung von Landesgrenzen für Irritationen. Inzwischen dementiert der Kreml die Pläne, doch Militärexperte Gustav Gressel ist sich sicher: Putin plant langfristig.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Gewarnt worden ist vor Putin und seinen Plänen bereits dutzende Male. Auch dieser Tage sorgt der Kreml erneut für alarmierende Schlagzeilen. Diesmal sind es Warnungen des schwedischen Armeechefs Micael Bydén sowie eine veröffentlichte Gesetzesinitiative, die Anlass zur Sorge geben.

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Bydén äußerte sich gegenüber den Zeitungen des "Redaktionsnetzwerkes Deutschland" besorgt: "Ich bin sicher, dass Putin sogar beide Augen auf Gotland geworfen hat." Es sei Putins Ziel, Kontrolle über die Ostsee zu erlangen.

Strategische Bedeutung

Gotland liegt mitten in der Ostsee. Über die schwedische Insel kann die Schifffahrt in die Ostsee hinein und aus ihr heraus kontrolliert werden. Die Verteidigung von Estland, Lettland, Litauen, Polen und Finnland hängt entscheidend von der zweitgrößten Insel in der Ostsee ab. Da im 350 Kilometer entfernten Kaliningrad die russische Ostseeflotte stationiert ist, wurde Gotland immer wieder als mögliches erstes Ziel einer russischen Invasion in der Ostsee ins Spiel gebracht.

Sorge vor dortigen russischen Expansionsplänen schüren derweil zwei weitere Vorfälle: Einer davon ereignete sich in der vergangenen Woche auf dem Fluss Narva, der die Grenze zwischen der ehemaligen Sowjetrepublik Estland und Russland markiert. Russische Beamte entfernten dort mehrere Bojen zur Markierung von Schifffahrtsrouten – laut der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas ein Vorgehen, um Angst zu säen.

Putins Kalkül in der Ostsee

Ebenfalls in der vergangenen Woche tauchte in der Gesetzesdatenbank der russischen Regierung plötzlich eine Initiative des Verteidigungsministeriums auf, wie das ZDF berichtet. Darin wurden Pläne ersichtlich, nationale Hoheitsgewässer zu erweitern. Betroffen sind Gebiete am Finnischen Meerbusen und an der litauischen Staatsgrenze.

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In dem Entwurf berief sich das Ministerium auf kartographische Ungenauigkeiten zu Zeiten der Sowjetunion, die nicht mit den aktuellen kartographischen Koordinaten übereinstimmen würden. Einen Tag nach Veröffentlichung dementierte der Kreml, dass es bei dem Gesetzesprojekt um eine Erweiterung russischen Gebiets gehe.

Insgesamt ist der Ostseeraum von enormer strategischer Bedeutung. Ein Einmarsch Putins auf Gotland würde bedeuten, dass Russland die Nato-Länder vom Meer aus bedrohen könnte. Gotland gilt für Putin selbst als Achillesferse, aber er könnte über die Insel auch versuchen, das Baltikum von den Nato-Versorgungslinien über die Ostsee abzuschneiden.

Auch Militärexperte Gustav Gressel warnt davor, Putins Ambitionen zu unterschätzen. "Es gab 2015 eine Stabsrahmenübung der russischen Baltischen Flotte. Übungsannahme war, dass der böse Westen einen Maidan in Moskau sponsert, ganz vorne dabei die Skandinavischen Staaten", sagt Gressel.

Russlands Suche nach Schwachstelle in der Nato

Um diese zu strafen und ein politisches Faustpfand zu gewinnen, habe die baltische Flotte in der Übung den Befehl bekommen, im Handstreich das finnische Aaland, das schwedische Öland und Gotland sowie das dänische Bornholm zu besetzen.

"So verrückt sich das für den Westen anhörte, so sehr versuchte ich damals unsere Entscheidungsträger zu überzeugen, das ernst zu nehmen", blickt Gressel zurück. In dem Manöver würden sich alle Probleme verstricken, die Russland damals schon bereitete.

"Von der verschwöhrungstheoretischen Annahme, der Westen stünde hinter jeder Oppositionsbewegung in Russland, bis hin zur gezielten Aggression in die Schwachstelle des Westens", zeigt der Experte auf. Damals sei nur das dänische Bornholm Nato-Bündnisgebiet gewesen, allerdings demilitarisiert.

Heute sei es für Russland politisch und militärisch komplizierter, da Finnland und Schweden mittlerweile in der Nato sind. Ein Einmarsch auf einer Insel wie Gotland würde den Bündnisfall auslösen. Dadurch hat der Kreml an Einfluss in und Zugang zum Ostseeraum verloren. Das treibt seine Suche nach Schwachstellen in den Reihen der Bündnispartner an.

"Die militärischen Ressourcen, um so etwas durchziehen zu können, sind aber derzeit in der Ukraine gebunden. Russland kann sich jetzt keine erste Eskalation mit der Nato leisten", ist sich Gressel sicher. Beobachter schätzen deshalb, dass Putin mit den Vorfällen zugleich einschüchtern, testen und provozieren will. Passiert nichts, fühlt sich der Kreml-Chef ermutigt.

Russland plant laut Experte langfristig

"Nur weil Russland jetzt nicht die militärischen Ressourcen hat, heißt das nicht, dass es seine Planungen aufgegeben hätte. Russland ist derzeit zuversichtlich, den Krieg gegen die Ukraine im nächsten Jahr zu gewinnen. Und dann würden die militärischen Kräfte wieder frei, um anderorts Unfug anzustellen", sagt Gressel. Eine Attacke müsste auch nicht militärischer Natur sein – Russland könnte auch Unterwasser-Sabotage, Abhöraktionen oder die gezielte Störung von GPS-Sendern fokussieren.

Außerdem könne Donald Trump 2025 wieder ins Weiße Haus einziehen und einen amerikanischen Abzug aus Europa anordnen. "Dann wäre die Nato militärisch erheblich geschwächt und politisch gespalten", warnt der Militärexperte.

Außerdem sei zu erwarten, dass China in einigen Jahren oder einem Jahrzehnt Taiwan angreifen und möglicherweise einen Krieg im Pazifik anzetteln werde. "Auch dann würden erhebliche amerikanischen Kräfte und Kapazitäten dort gebunden, Europa wäre verwundbarer", zeigt Gressel auf.

Insgesamt bräuchte der Kreml aus seiner Sicht für eine Attacke in der Ostsee ein Narrativ, welches es der Bevölkerung eintrichtern könne. "Ungerechte Grenzen oder 'Landraub' der Nato im Baltikum – all das könnte Teil der russischen Kriegsrechtfertigung und Propaganda sein", sagt Gressel.

Er warnt: "Wehret den Anfängen. Zunächst sollte Russland in der Ukraine verlieren. Dann sollten sich die europäischen Nato-Staaten stärker in der konventionellen Abschreckung machen, um nicht bei erster Gelegenheit Opfer zu werden."

Über den Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen

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