Eine Verhaftungswelle überrollt den Militärapparat von Kreml-Chef Wladimir Putin. Unliebsame Generäle schmeißt er mit Korruptionsvorwürfen raus. Dahinter könnten aus Sicht von Experten mehrere Strategien stecken. Welche Schlüsse man aus den Säuberungen jedoch nicht treffen sollte und wer Putin zuletzt zu gefährlich wurde.

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Der russische Militärapparat erfährt eine Säuberungswelle: Kreml-Chef Putin hat gleich mehrere spektakuläre Festnahmen veranlasst. Die Vorwürfe lauten stets gleich: Korruption und Bestechlichkeit. So aus dem Verkehr gezogen hat Putin bereits Ende April beispielsweise Timur Iwanow, den ehemaligen Vize-Verteidigungsminister. Iwanow, der auf mehreren Sanktionslisten von EU und USA steht, kam wochenlang in Untersuchungshaft, ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Ein weiterer Paukenschlag folgte dann vor wenigen Tagen: Ein Militärgericht teilte mit, dass auch Wadim Schamarin verhaftet wurde. Der 52-Jährige ist Vizechef des russischen Generalstabs und soll beim Abschluss von Verträgen hohe Bestechungsgelder kassiert haben. Er soll zunächst für zwei Monate in Untersuchungshaft bleiben.

Festnahme hochrangiger Generäle

Der Festnahme von Schamarin gingen außerdem die Verhaftungen von Juri Kusnezow und Iwan Popow voraus. Bei beiden handelt es sich um Generäle. Kusnezow war für das Personal im Verteidigungsministerium zuständig, Popow war bis Sommer 2023 Befehlshaber in der Südukraine. Schon seit Wochen kommt keine Ruhe in Putins Militärapparat: Im Mai wurde Verteidigungsminister Sergei Schoigu von Ökonom Andrej Beloussow abgelöst.

Hat Putin doch mehr Probleme mit seinem Militärapparat? Aus Sicht von Beobachtern könnten unterschiedliche Gründe hinter der Reihe an Festnahmen stecken. Gegenüber der "Tagesschau" sagte Margarete Klein von der "Stiftung Wissenschaft und Politik", wenn jemand wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet werde, "dann ist diese Verhaftung immer auch ein politischer Akt."

Fabrizierte Vorwürfe

Das sieht auch Militärexperte Gustav Gressel so und illustriert dies im Gespräch mit unserer Redaktion an einem Beispiel: "Popow war ein sehr beliebter General, kritisierte aber öffentlich die Armeeführung und General Galeri Gerassimov, die Truppe zu überarbeiten und zu wenige Rotationen zuzulassen. Daher wurde er nach der Prigoschin-Meuterei entlassen", so Gressel.

Er hält die gegen Popow erhobenen Vorwürfe für "mit ziemlicher Sicherheit fabriziert". Konkret soll Popow Hilfsgüter der Armee im Wert von umgerechnet einer Million Euro zweckentfremdet und verkauft haben. "Ich glaube nicht, dass er komplett sauber war. Aber für viele Abläufe, die ihm jetzt vorgeworfen werden, war er gar nicht verantwortlich", so der Experte.

109 Milliarden Euro Kriegshaushalt

Korruption und Misswirtschaft würden in der russischen Armee allerdings fest dazugehören. Dass Putin es mit den Festnahmen nur auf die Bekämpfung von Korruption anlegt, ist daher unwahrscheinlich. An manchen Stellen dient Korruption Putin: Damit kann er sich Loyalität sichern und Getreue entschädigen – etwa, wenn sie durch seine Politik auf Sanktionslisten im Westen landen.

Doch derzeit braucht Putin das Geld vor allem für eins: Den Krieg in der Ukraine. Zu viel Korruption gefährdet so wiederum den Kriegserfolg. Umgerechnet rund 109 Milliarden Euro, also etwa 30 Prozent seines Haushalts, will Russland in den kommenden Jahren in sein Militär stecken.

Experte: "Putschwahrscheinlichkeit senken"

"Ich denke die Säuberungen sind vor allem dazu da, die Putschwahrscheinlichkeit zu senken", schätzt Gressel. Der Anlass dafür könnte die Ernennung von Ökonom Andrej Beloussow sein. Der amtierende Verteidigungsminister verfügt noch über keine starke Stellung im Militär und will als durchsetzungsstark wahrgenommen werden. Das Kalkül: Verhaftungen schaffen Unsicherheiten – und die erzwingen Loyalität.

Gressel kommentiert: "Jetzt wird mir auch klarer, warum Offizier Nikolai Patrushev abgesägt und als Chef des Nationalen Sicherheitsrats durch Schoigu ersetzt wurde." Schoigu sei schließlich bei den Geheimdiensten FSB und SVR überhaupt nicht angesehen und verfüge über kein Netzwerk – doch Patrushev sei Putin anscheinend zu gefährlich geworden.

"Er galt lange als die Nummer 2, der unmittelbare Nachfolger Putins. In Kiew habe ich oft gehört, dass wenn Putin stirbt und Patrushev ans Ruder kommt, man mit ihm verhandeln könne", gibt Gressel Einblick. Patrushev, zumindest so die Einschätzung in der Ukraine, sei zwar auch ein alter KGBler, aber rationaler als Putin. "Das hat Putin vielleicht auch mitbekommen und ihn aufs Abstellgleis gesetzt", mutmaßt Gressel.

Die Festnahmen und Säuberungen nutzen Putin noch an anderer Stelle: Popow und Co. können als Sündenböcke für die Probleme der russischen Armee herhalten. Denn noch immer tut sich der Kreml schwer damit, ausreichend Nachwuchs-Soldaten zu finden, die Zahl der Deserteure steigt.

Putin nicht unterschätzen

Aus Sicht von Beobachtern könnte Putin mit seinen Säuberungsaktionen aber durchaus erfolgreich sein, wenn es darum geht, mehr Material und Menschen an die Front zu bringen. Je weniger Geld in korrupten Ministerien versickert, desto mehr bleibt frei für Waffen und Co.

Aus den Festnahmen einen schwächelnden Putin abzuleiten, könnte also zu kurz gedacht sein. So zitiert auch die "Tagesschau" den Russland-Experten Stefan Meister: "Für mich ist dieses Aufräumen ein Zeichen von Stärke. Es zeigt, dass es möglich ist, das System effizienter zu gestalten. Dass, wenn Putin hinschaut, auch Korruption bekämpft werden kann. Und, dass er eben auch dazu bereit ist, alte, loyale Weggefährten aus Schlüsselpositionen abzuziehen und effiziente Technokraten einzusetzen - gute Manager, um das System effizienter zu gestalten."

Über den Experten:

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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