Für Likes in sozialen Medien veröffentlichen Zivilisten Videos der aktiven ukrainischen Luftabwehr. Damit füttern sie den russischen Geheimdienst ungewollt mit sensiblen Informationen. Ein Experte verrät, wie leicht selbst Amateure mit Open Source Intelligence Objekte genau lokalisieren könnten.

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Wenn es um die Luftabwehr geht, wird das ukrainische Militär schweigsam. Wo sich die Stellungen befinden, sollte eigentlich streng geheim bleiben. Eigentlich. Denn nicht selten kommt es vor, dass der ukrainische Geheimdienst SBU von Spionen berichtet, die im Auftrag Russlands Bilder und Videos von etwaigen Militärstellungen anfertigten. Im derzeitigen Kriegsrecht gilt das als Hochverrat – und kann mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet werden.

Doch nicht bloß bezahlte Agenten liefern Russland Aufklärungsmaterial. Auch Menschen, die auf der Seite der Ukraine stehen, tragen einen Teil dazu bei, wenn die Stationierung der Luftwaffe auffliegt. Unbeabsichtigt versteht sich.

Denn was viele, vor allem ausländische Helfer, nicht wissen: Es ist strikt verboten, Videos oder Fotos der aktiven Luftwaffe aufzunehmen und zu veröffentlichen. Wer dabei erwischt wird, muss mit einer Freiheitsstrafe rechnen. Im Mai dieses Jahres mussten sich sechs ukrainische Blogger öffentlich dafür entschuldigen, etwaige Videos veröffentlicht zu haben – laut dem SBU drohen ihnen bis zu acht Jahre Haft.

Videos landen auf Youtube und Instagram

Dennoch tauchen solche Aufnahmen noch immer im Netz auf. Gibt es erneut einen groß angelegten Drohnenangriff, etwa auf die ukrainische Hauptstadt Kiew, werden Youtube, Instagram und Co. geflutet mit Videos der aktiven Luftabwehr. Für Likes auf sozialen Medien geben Zivilisten also hoch sensible Daten heraus. Wie einfach es ist, dieses Material auszuwerten und so die Luftabwehr zu orten, übersehen sie.

Mit OSINT (Open Source Intelligence), also der Informationsgewinnung aus frei zugänglichen Quellen, könnte theoretisch jeder Amateur eine genaue Ortsangabe von einem für ihn interessanten Objekt machen. So werden private Aufnahmen militärischer Objekte zum gefährlichen Instrument des russischen Geheimdienstes. Es braucht nicht viel, um bereits mit Google Maps eine genaue Analyse zu machen, erklärt der Sicherheitsberater und OSINT-Experte Malte Roschinski auf Anfrage unserer Redaktion.

Roschinski ist Geschäftsführer des Sicherheitsberatungsunternehmens Plan4Risk, mit dem er etwa für Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Firmen oder Privatpersonen, die in Krisenregionen reisen, Risikoanalysen erstellt und Sicherheitsmaßnahmen erarbeitet.

Laut Roschinski gibt es speziell ausgebildete Experten, die Bilder und Videos innerhalb von zehn bis 20 Minuten orten können. "Es gibt im Militär Strukturen, die genau dafür geschaffen wurden, solche Objekte durch öffentlich zugängliche Fotos und Videos schnell zu orten und weiterzuleiten", erklärt er. "Das ist in der Ukraine ja auch bereits passiert." Kenne man den Zusammenhang, also etwa die Region, in der das Material aufgenommen wurde, genüge ein einziges Foto. "Zusammen mit einem Bild oder Video kommen ja meist noch zusätzliche Informationen." Wer auf Instagram etwaige Aufnahmen teilt, teilt meist auch andere Daten – zum Beispiel, wo man sich gerade befindet.

OSINT ist nicht bloß ein Instrument von Geheimdiensten

Doch nicht bloß geübte Experten können OSINT nutzen. Originalnutzer seien zwar noch immer Nachrichten- und Geheimdienste. Das bestätigt auch der Bundesverfassungsschutz, also der deutsche Inlandsnachrichtendienst. "Offen zugängliche Informationen stehen auch für Nachrichtendienste meist am Anfang ihrer Informationsbeschaffung", heißt es auf dessen Webseite. "Doch OSINT kann jeder nutzen", meint Roschinski. "Militärs, aber eben auch politische Akteure jeder Couleur, NGOs und Beratungsfirmen wie unsere – um Menschen auf der Reise zu beschützen."

Vorwissen brauche man grundsätzlich keines, wenn man sich schnell einarbeiten könne. "Es geht aber natürlich wesentlich schneller, wenn man Erfahrung damit hat." Wer genügend Erfahrung hat, könne innerhalb von Sekunden einen groben Ort einschätzen und sich dann Stück für Stück näher herantasten.

Um einen genauen Ort herauszufinden, nutzen OSINT-Experten etwa auffällige Bauten innerhalb der Fotografie oder des Videos. Eine Kirche, ein gemustertes Dach, eine Bushaltestelle. Diese auf einem Satellitenbild wieder zu finden, kann mit ein wenig Geschick und Erfahrung innerhalb kürzester Zeit gelingen. Damit können bereits die ersten Anhaltspunkte gefunden werden. Mit Google Maps oder anderen Navigationssystemen bestimmen Analysten Entfernungen auf den Meter genau – und können diese Daten für weitere Schritte nutzen.

IRIS-T und Patriot werden in der Ukraine verwendet

Das ukrainische Militär arbeitet unter anderem mit Luftabwehrsystemen aus Deutschland oder den USA. Das deutsche System IRIS-T SLM etwa. Es gilt als das modernste Flugabwehrsystem Deutschlands. Laut dem deutschen Hersteller Diehl Defence schützt es vor Angriffen durch Flugzeuge, Hubschrauber, Marschflugkörper und ballistische Kurzstreckenraketen. Ähnliches gilt für das US-amerikanische Patriot-System.

Werden Stellungen dieser Verteidigungswaffen veröffentlicht, können diese von russischen Raketen angegriffen und zerstört werden. Die Folgen: ein geringerer Schutz für Zivilisten in der jeweiligen Stadt. Denn eine akkurate Luftabwehr ist ohne diese Systeme kaum noch möglich.


Über den Gesprächspartner:

  • Malte Roschinski studierte Konfliktforschung und Nachrichtendienststudien am Londoner King’s College und war lange Zeit als Redakteur für eine globale Nachrichtenagentur mit Fokus auf Sicherheitsthemen im Einsatz. Später wechselte er zu einer Sicherheitsfirma und war dort für Risikoanalysen zuständig, bis er sich schließlich mit seiner eigenen Beratungsagentur selbstständig machte. Mit seinem Unternehmen unterstützt er sowohl Nichtregierungsorganisationen als auch Firmen und Privatpersonen in Hochrisikogebieten bei der Bewertung und Minimierung von Gefahren.

Verwendete Quellen:

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