Der Winter naht – und Russland richtet seine Angriffe erneut auf die kritische Infrastruktur der Ukraine. Stromausfälle und der Mangel an fließendem Wasser waren bisher die Folgen. Doch laut Osteuropa-Experte Andreas Umland hat die Ukraine aus dem vergangenen Winter gelernt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es ist bereits der zweite Herbst, in dem sich die Ukraine auf eine harte Zeit einstellen muss. Der Winter kommt – das ist gewiss. Und fast genauso sicher werden Russlands Angriffe auf die kritische Infrastruktur des Landes wieder zunehmen. Davon gehen Experten aus.

Mehr News zum Krieg in der Ukraine

Bereits vergangenes Jahr beschoss Russland maßgeblich den Energiesektor in der gesamten Ukraine. Die Folgen: Heizungen fielen aus, Stromquellen wurden zerstört. Teilweise waren ganze Regionen stundenlang ohne Internet. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen waren ukrainische Haushalte vergangenen Winter durchschnittlich fünf Wochen ohne Strom.

Das war im Jahr 2022. Doch wie Andreas Umland im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt, hat Kiew dazugelernt. Ist resilienter geworden, flexibler. Umland ist Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies. Und er sagt, die Ukraine habe Erfahrungen gesammelt. "Im Dezember 2022 hatte man die Befürchtung, dass das Kiewer Energiesystem so weit zerstört wird, dass die Stadt evakuiert werden muss", erklärt er. Doch auf solche Attacken seien viele jetzt vorbereitet.

Hintergrundinfo zu Russlands Krieg gegen die Ukraine

  • Am Morgen des 24. Februar 2022 startete Russland auf Anordnung von Präsident Wladimir Putin einen breit angelegten Angriff auf die benachbarte Ukraine. Seitdem herrscht in dem Land ein Krieg, dem ein jahrelang schwelender Konflikt vorausging.
  • Der Angriff wurde am 2. März 2022 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit verurteilt. Deutschland, die anderen westlichen Staaten, die Europäische Union und die Nato verurteilten den russischen Angriff auf die Ukraine scharf.
  • In der Folge haben zahlreiche Staaten Russland mit massiven Wirtschaftssanktionen belegt und unterstützen die Ukraine sowohl mit humanitärer Hilfe als auch mit militärischem Gerät.
  • Mehr Nachrichten und Hintergründe zu Russlands Krieg gegen die Ukraine finden Sie hier

Russlands Winteroffensive beginnt bereits

Russland beginnt bereits mit seiner Winteroffensive. Einer Analyse des Energie-Thinktanks Dixi-Group zufolge waren am 2. Oktober aufgrund von russischem Beschuss fünf Orte in der Region Saporischschja vom Strom abgeschnitten. Am selben Tag traf eine Rakete auf ein Techniklager des Energiekonzerns DTEK in der Region Dnipro und zerstörte diverse Ersatzteile und Reservemaschinerie. Ein Tag darauf kappte eine Panzeroffensive eine Freileitung des Stromnetzes in der Region Charkiw. Am 11. Oktober schickten russische Einheiten Drohnen auf eine Gasproduktionsanlage in dieselbe Region. Laut Dixi-Group wurde die Anlage dabei erheblich beschädigt.

In seiner abendlichen Videoansprache erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag, dass sowohl in der Region Donezk als auch in Cherson Angriffe auf die Energieinfrastruktur zunähmen. In Cherson war der Strom bereits für mehrere Stunden unterbrochen. "Den ganzen Tag über waren Stromtechniker und Rettungskräfte in Cherson und in der Region Donezk sehr aktiv, um die Folgen der Angriffe auf Stromanlagen zu beseitigen", erklärte Selenskyj.

Selenskyj spricht hier von Reparaturen. Die Konsequenzen beseitigen. Doch wie steht es um die Vorbereitung? Das Verhindern von Stromausfällen in den Haushalten und Betrieben?

Lesen Sie auch: Konfliktforscher erklärt: Das ist Russlands Rolle im Krieg in Nahost

Energiekonzerne investieren in besseren Schutz

Laut Umland hat sich nicht bloß der Staat auf etwaige Angriffe vorbereitet. "Viele Bürgerinnen und Bürger haben sich beispielsweise einen Akkumulator besorgt", erklärt der Experte. Und auch die meisten Firmen seien besser organisiert – mit eigenen Generatoren wollen sie laut Umland dafür sorgen, ihre Betriebe weiter am Laufen zu halten. Auch wenn es einen Blackout gibt.

Und nicht nur das: Die Stromversorger arbeiten bereits seit Langem daran, ihre Einrichtungen besser zu schützen. So versucht man etwa Drohnen mit Netzen abzufangen und die Maschinerie mit Sandsäcken abzuschirmen. Der Stromkonzern und Kohleminenbetreiber DTEK hat eigenen Angaben zufolge 107 Millionen US-Dollar (rund 101 Millionen Euro) in die Hand genommen, um Wärmekraftwerke zu reparieren. Um die Kohleversorgung zu sichern, habe man 200 Millionen Dollar (rund 190 Millionen Euro) investiert.

36 Millionen Dollar (rund 34 Millionen Euro) hat DTEK demnach dafür ausgegeben, "kritische Ausrüstung" in der Nähe von Kraftwerken, Bergwerken und im Stromnetz zu positionieren und die Kraftwerke mit zusätzlichen Schutzbarrieren zu versehen. Zusätzlich dazu habe man die Erschließung von Erdgasvorkommen um das Dreifache beschleunigt und zwei stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb genommen.

Experte hat Hoffnung für Winter: "Wird vermutlich nicht so schlimm wie im letzten"

"Es waren im letzten Winter vor allem Unternehmen, die dafür gesorgt haben, dass sich die attackierten Orte teilweise unabhängig von der zentralen Stromversorgung gemacht haben", erklärt der Osteuropa-Experte Umland. "Daher wird es in diesem Winter vermutlich nicht so schlimm wie im letzten sein." Insgesamt, sagt er, ist die Zivilbevölkerung unabhängiger von der kritischen Infrastruktur – was die Pläne Russlands vermutlich durchkreuzen wird.

Aber was sind Russlands Pläne? Vergangenes Jahr, davon gehen Experten aus, beschossen russische Einheiten die ukrainische Infrastruktur, um den Willen der Bevölkerung zu brechen. Die Menschen kriegsmüde machen – das, so heißt es, war das große Ziel. Psychologische Kriegsführung. Mürbe machen, um Rückhalt zu nehmen. Doch dieser Plan ging nicht auf. Warum aber startet Moskau erneut mit einer solchen Offensive in die kalte Jahreszeit?

"Den Russen geht es inzwischen weniger um psychologische Kriegsführung, sondern eher darum, ganze Ortschaften lahmzulegen", erklärt Umland. "Wenn man es schafft, die gesamte Stromversorgung einer Stadt oder Siedlung auszuschalten, ist die Frage, wie diese Ortschaften überleben." Natürlich seien auch die Russen auf diesen Winter vorbereitet. Und Umland geht davon aus, dass sich die Angriffstaktik wandeln wird. "Es ist etwa vorstellbar, dass man viele falsche Raketen abschießt."

Neue russische Taktik: falsche Raketen als Ablenkung

Ähnliches habe gerade auch die Terrororganisation Hamas in Israel gemacht: "Es wurden viele Raketen losgeschickt, die keine Sprengkörper enthielten. Damit versucht man, die Luftabwehr abzulenken – in der Hoffnung, dass die richtigen Raketen nicht mehr abgefangen werden." Das, meint Umland, könnte Russland in diesem Jahr auch versuchen und so Umspann- und Kraftwerke treffen. "Solche Fake-Raketen sind keine Neuheit in der Kriegsführung. Sie werden bereits eingesetzt, auch direkt an der Front. Nicht ohne Grund haben die Ukrainer die Befürchtung, dass Moskau dieses Jahr noch ernsthafter versuchen wird, die Stromversorgung lahmzulegen."

Für die Ukraine bedeutet Vorbereitung demnach nicht bloß das Aufbauen von Schutzwallen. Stichwort Luftabwehr. Auf deren Stärkung pocht Kiew erneut mit Nachdruck, und auch die Bundesregierung sieht darin einen wichtigen Punkt. Das sogenannte "Winterpaket", das Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) angekündigt hatte, enthält dementsprechend auch weitere Flugabwehr-Systeme: drei Gepard-Panzer, zwei Iris-T-Systeme, ein zusätzliches Patriot-System.

Zum Gesprächspartner:

  • Andreas Umland ist promovierter Politikwissenschaftler, Publizist und Analyst beim Stockholm Center for Eastern European Studies. Er ist Gründer und Redakteur der Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" und neben weiteren Projekten auch Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums.

Verwendete Quellen:

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.