Der Krieg in der Ukraine beeinflusst das Leben tausender Kinder massiv. Seit Februar 2022 dokumentiert die von der Regierung betriebene Website "Children of War" Fälle von getöteten, verwundeten und verschleppten Kindern. Recherchen der "Financial Times" enthüllten nun, dass viele dieser Kinder auf russischen Adoptionswebseiten angeboten werden, teils unter falschen Identitäten. Trotz internationaler Haftbefehle gegen russische Verantwortliche setzt sich das Leid fort. Offenbar will Moskau nun auch Neugeborene entführen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Täglich wird die Website aktualisiert. 24. Februar 2022 bis 19. Juni 2024: 551 tot, 1.388 verwundet, 2.008 vermisst, 28.464 gefunden, 19.546 deportiert und/oder verschleppt, 388 zurückgeführt, 15 sexuell missbraucht. Die Rede ist von ukrainischen Kindern. Die Seite "Children of War" dokumentiert alle Fälle, die die ukrainische Regierung verifizieren kann.

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Sie erzählt die Geschichten jener Kinder, die im Krieg leben, die schwere körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben, Kinder, die nach Russland oder in russisch kontrollierte ukrainische Gebiete verbracht werden. Von jenen, die es bereits geschafft haben, wieder heimzukommen und jenen, die nach Erkenntnissen der "New York Times" und der "Financial Times" nun auch auf russischen Adoptionswebseiten angeboten werden.

Auch Putin-Vertraute adoptiert Kind aus der Ukraine

Dass die russische Föderation Kinder in ihre Gebiete verschleppt, ist kaum noch eine Nachricht in den Medien wert. Bereits im März 2023 hatte der internationale Gerichtshof Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erhoben. Der Vorwurf: Völkermord durch die zwangsweise Deportation von Kindern. Auch damals schon waren die Kinder nicht bloß in angebliche Erholungscamps gebracht worden, wie man in Moskau behauptete. Viele wurden in Kinderheime gebracht oder auch gleich zur Adoption freigegeben. Selbst Lwowa-Belowa hat bereits ein 15-jähriges ukrainisches Kind adoptiert, das hatten Putin und sie damals in einem Fernsehbeitrag erzählt.

Doch durch langwierige Recherchen konnten nun mehrere Kinder, die auf etwaigen Webseiten zu finden waren, identifiziert werden. Teilweise, so schreibt es die britische "Financial Times" ("FT"), sogar unter einer gefälschten Identität. Mithilfe von Bilderkennungsprogrammen und öffentlichen Aufzeichnungen sowie Gesprächen mit ukrainischen Beamten und den Verwandten der Kinder habe die "FT" vier ukrainische Kinder auf der von der russischen Regierung betriebenen Seite usynovite.ru identifizieren und ausfindig machen können.

Die Webseite sieht freundlich aus, auf den ersten Blick strahlt einen ein braunhaariges Mädchen an. "Seit 19 Jahren hilft unsere Website usynovite.ru Kindern dabei, ein neues Zuhause, Eltern, Glauben an die Zukunft sowie Vormunde und Adoptiveltern zu finden – elterliches Glück und neue Familienmitglieder", heißt es dort. 35.345 Kinder seien in der Datenbank gelistet. Wie viele davon tatsächlich ukrainischer Herkunft sind, ist nicht bekannt.

Verschleppung von Kindern zählt als Völkermord

Die systematische Verschleppung von Kindern zählt nach einer Konvention der Vereinten Nationen zu Völkermord – auch ohne tödliche Gewalt. Das ist auch der Grund für den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten und seine Kinderrechtsbeauftragte.

Moskau weist alle Vorwürfe zurück und bezeichnete den Haftbefehl als rechtlich nichtig. Von Rettung und Erholung ist die Rede. PR-Berichte, Videos, Interviews, Paraden: Der Kreml lässt sich vieles einfallen, um ein Narrativ des Heldentums zu kreieren. Couragierte Evakuierungen aus umkämpften Gebieten und sogenannte Erholungscamps für jene Kinder, die unter der russischen Besatzung leben. Viele der Camp-Kinder sind bis heute nicht wieder bei ihren Eltern.

Auf der Seite "Children of War" berichten heimgekehrte Kinder, was ihnen in diesen Camps widerfahren ist. Man habe jene Kinder, die sich pro-ukrainisch äußerten, in einen Keller oder eine Isolationszelle gesperrt. Ukrainisch zu sprechen, sei ihnen verboten worden, stattdessen zwang man sie, die russische Nationalhymne zu hören, russische patriotische Lieder zu lernen und zu arbeiten. Mindestens sechs Monate lang sei den Kindern erzählt worden, ihre Eltern hätten sie verlassen.

Laut "FT" würden die Kinder gezwungen, sich Kreml-Propaganda anzusehen und aufzusagen, Kontakt zu ihren Verwandten würde untersagt, gleichzeitig müssten sie russische Identitäten annehmen. Viele beschrieben verbale und körperliche Misshandlungen durch russische Kinder und einige Betreuer. Einer Recherche des ZDF-Investigativ-Formats "Frontal" zufolge werden ukrainische Kinder und Jugendliche, die sich in Russland aufhalten, durch Armbänder gekennzeichnet. "Wie Tiere", sagt ein Junge in einem Videocall.

Kind wird in Donezk ohne Betäubung operiert

Der damals elfjährige Illia, das berichtet er selbst bei "Children of War", wurde nach einer Verletzung durch den russischen Beschuss seiner Heimatstadt Mariupol in ein Krankenhaus in die seit 2014 annektierte Stadt Donezk gebracht. Man habe ihn am Bein operiert, um Schrapnell-Teile zu entfernen. Die Operation sei ohne Betäubung durchgeführt worden. Wieder bei Bewusstsein, soll der Junge von Erwachsenen verspottet worden sein: Das Kind solle jetzt nicht mehr "Ruhm der Ukraine", sondern "Ruhm der Ukraine als Teil Russlands" sagen.

So perfide die Verschleppungen bisher schon waren: Sie könnten nun sogar noch ausgeweitet werden. Offenbar gibt es eine neue Taktik: Laut dem Leiter der ukrainischen Militärverwaltung der Luhansk-Region, Artem Lysogor, sollen nun auch Neugeborene entführt werden, wenn nicht mindestens ein Elternteil die russische Staatsbürgerschaft vorweisen kann.

Der "FT" sagte Wayne Jordash, Präsident der internationalen Anwaltskanzlei für Menschenrechte Global Rights Compliance, dass die gewaltsame Verbringung oder Deportation von Kindern ein Kriegsverbrechen sei. "Wenn sie jedoch als Teil eines weit verbreiteten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung begangen werden, wie es bei Russlands Angriff auf die Ukraine zweifellos der Fall ist, handelt es sich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wird er bei "FT" zitiert. Die Identität der Kinder zu ändern und sie zur Adoption freizugeben, bestätige nur zudem die kriminelle Absicht.

Verwendete Quellen:

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