Über 1300 Festnahmen gab es am vergangenen Wochenende in Moskau. Der Kreml wirkt angesichts der anhaltenden Proteste nervös. Muss Wladimir Putin um sein Amt bangen?

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Nichts fürchtet der Kreml so sehr wie Proteste. Und genau diese gibt es beinahe jede Woche nur wenige Gehminuten vom Roten Platz im Herzen Moskaus entfernt. Mit und ohne Genehmigung der Behörden demonstrieren Tausende Moskauer gegen das System. Einen Umsturz oder eine Revolution wie den "Arabischen Frühling" muss Kremlchef Wladimir Putin trotzdem nicht fürchten - aber kleine Risse.

Polizei greift hart durch

Die russische Polizei steht im Ruf, nicht besonders zimperlich mit Demonstranten umzugehen. Am Wochenende erreichten die Behörden mit knapp 1400 Festnahmen einen fragwürdigen Rekord, wie russische Medien zählten. Mit Knüppeln gingen die Polizisten, Spezialeinheiten und Nationalgarde gegen friedliche Demonstranten so hart wie lange nicht vor. Deren Ziel: faire Regionalwahlen, bei denen Oppositionelle zugelassen werden. Die Opposition kann der Kremlpartei Geeintes Russland zwar nicht gefährlich werden, doch jeder Sitz im Stadtparlament bedeutet auch ein Stück Kontrolle über die Machthaber.

Ungewohnte Milde während der WM

Dabei liebäugelten viele Ausländer, auch in Deutschland, mit Putins Milde. Vor genau einem Jahr zogen zur Fußball-Weltmeisterschaft Fans aus aller Welt wild durch die Straßen, schwenkten Fahnen und Banner, Sprechchöre wurden toleriert. Auch die Moskauer rieben sich verwundert die Augen. Denn üblicherweise machen die Behörden im streng regulierten Russland bei nicht genehmigten Treiben auf den Straßen kurzen Prozess - Festnahmen, Handschellen, ab hinter Gitter.

Das Bild eines toleranten und weltoffenen Russlands sollte damals um die Welt gehen. Ein Jahr später sind es wieder Schlagstöcke, schreiende und blutende Menschen und Polizeimassen, die als Titelbilder international Schlagzeilen machen. Experten sind sich sicher: Das Wochenende hat die Protestkultur im Riesenreich geprägt.

"Ernste Herausforderung" für Putin

Putin könnte vor einer Krise stehen, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja. "Der Protest wird zu einer ernsten Herausforderung für das System", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Wenn die Lage nicht bald unter Kontrolle gebracht werde, habe das ernsthafte Konsequenzen für seinen Rückhalt. Bislang schweigt der Kreml dazu; Bürgermeister Sergej Sobjanin ist abgetaucht.

Schon lange geht es den Menschen in Moskau um mehr als nur die bevorstehenden Regionalwahlen, von denen zahlreiche Politiker ausgeschlossen sind. Viel mehr interessiert sie, ob Veränderungen im russischen System möglich sind, und zwar auf dem Rechtsweg. Zudem treibt der Frust über das marode Gesundheits- wie Bildungssystem, die Korruption und eine umstrittene Rentenreform unterschiedliche Generationen und die Mittelschicht auf die Straße.

Hunderttausende Menschen auf den Straßen

Schon vor einigen Jahren gab es Massenproteste, die die Menschen aber entmutigte, ihre Rechte einzufordern. 2011 und 2012 waren Hunderttausende Menschen gegen Wahlbetrug sowie Putins Rückkehr ins Präsidentenamt auf die Straße gegangen. Sie wurden brutal von der Polizei niedergeknüppelt. Aktivisten wie die Punkband Pussy Riot oder der Einzelkämpfer Ildar Dadin, die für Meinungsfreiheit ein Mahnmal setzten, wurden ins Straflager geschickt. Investigativjournalisten müssen um ihr Leben bangen oder werden mit fragwürdigen Mitteln mundtot gemacht. Oppositionelle werden regelmäßig gegängelt, festgenommen und verurteilt. Bei Reporter ohne Grenzen rangiert Russland auf Platz 149 von 180.

Viele Russen resignieren

Aus Angst arrangieren sich viele Russen der Mittelschicht mit ihrer politischen Ohnmacht. "Die Lage ist stabil. Wer protestiert, bringt uns nur in Gefahr", heißt es, egal wen man in Russland auf die neue Protestwelle anspricht. Dieser Devise folgt auch das Staatsfernsehen, das einerseits die Proteste zunächst vollkommen ignorierte und schließlich die Demonstranten als brutal und aggressiv diffamierte.

Die Opposition, die nicht als Gesetzesabnicker im Parlament vertreten ist, gilt seit Jahren als schwach und zersplittert. Vor allem der Mord an ihrer Galionsfigur, Ex-Vizeregierungschef Boris Nemzow, 2014 drängte sie zunehmend an den Rand der politischen Existenz. Seitdem leitet der Blogger Alexej Nawalny die außerparlamentarische Opposition an.

Nawalny ist dem Kreml ein Dorn im Auge

Der 43-Jährige sammelt besonders im Internet seine Gefolgschaft, was ihn von den starren und alten Politikern aus der Machtriege absetzt. Kritiker nennen ihn einen Rattenfänger, der die Jugend manipuliere. Für andere ist Nawalny eine Art Messias für die russische Demokratie. Fakt ist: Nawalny besetzt zwar kein politisches Amt, bringt aber den Kreml regelmäßig mit seinen Anti-Korruptions-Recherchen und Protesten ins Schwitzen. Genauso oft wie er deshalb eingesperrt wird, ruft er auch zu neuen Demonstrationen auf.

Doch diesmal sei die Staatsmacht zu weit gegangen, sagen Beobachter in Moskau. Selbst der Menschenrechtsrat beim Präsidenten fordert, dass die Oppositionellen zur Regionalwahl zugelassen werden. "Irgendwo muss der Kreml jetzt ein Ventil finden", sagt auch Expertin Stanowaja. Denn sonst könne mit der sozialen Unzufriedenheit der Protest auf die Provinz und andere Städte übergehen.

Dämpfer für Putin-Partei

Im vergangenen Jahr erlebt die immer unbeliebtere Partei Geeintes Russland bei Gouverneurswahlen bereits eine ordentliche Schlappe. Der Kreml muss also beweisen, dass er die Bürger ernst nimmt - auch in ihren Rechten. Die nächste Protestaktion in Moskau ist für nächsten Samstag geplant. "Sie haben das Recht auf Kundgebungen", sagt Wahlleiterin Ella Pamfilowa. Doch dann räumt sie ein: "Der Effekt auf unsere Entscheidung wird aber gleich null sein." (mss/dpa)

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