In Thüringen, Sachsen und Brandenburg werden bald neue Landtage gewählt. Na und? Fünf Gründe, warum das alle interessieren sollte.

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Kaum sind die Plakate zur Europawahl abgehängt, rollt der nächste Wahlkampf an. Am 1. September wählen Thüringen und Sachsen neue Landtage, drei Wochen später dann Brandenburg. Es sind drei Bundesländer, die zusammen gerade mal halb so viele Einwohner haben wie Nordrhein-Westfalen. Und doch sind nicht nur die Ampel-Parteien äußerst angespannt. "Diese Wahlen könnten das Land grundsätzlich verändern", sagt der Rostocker Politikwissenschaftler Wolfgang Muno. Fünf Gründe, warum das so ist.

1. Erstmals könnte die AfD in allen drei Ländern stärkste Kraft werden

Die AfD ist in allen drei Ländern in Umfragen Nummer eins: in Sachsen mit um die 30 Prozent, in Thüringen mit 28 Prozent und in Brandenburg mit 25 Prozent. Solche Erhebungen sind mit so viel Abstand zur Wahl grundsätzlich mit Vorsicht zu betrachten. Zudem ist in Sachsen die CDU fast gleich auf mit der Rechtsaußenpartei. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass die AfD mit solchen Werten erstmals einen Ministerpräsidenten stellen kann - solange keine andere Partei mit ihr koaliert.

Trotzdem deutet sich ein Bruch an - oder aus Sicht des Soziologen Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz die nächste Etappe einer Entwicklung, die schon vor zehn Jahren begann: "Populistische Parteien gewinnen an Zuspruch, selbst Parteien mit einer relevanten rechtsextremistischen Fraktion." Sogar über die Frage absoluter Mehrheiten müsse gesprochen werden.

Rechnerisch kann ein Stimmanteil von deutlich unter 50 Prozent für eine absolute Mehrheit der Landtagsmandate reichen. Das gilt zum Beispiel, wenn nur wenige Parteien ins Parlament kommen und mehrere andere knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Stand jetzt ist das im Fall der AfD nur Theorie. Aber Kollmorgen sieht eine Zuspitzung im Vergleich zu den Wahlen 2019. Einstellungen hätten sich vertieft und verfestigt, das Vertrauen in andere Parteien sei weiter geschrumpft.

2. Einstige Volksparteien kämpfen gegen den Abstieg - und das BSW sahnt ab

"Wir haben es mit radikal veränderten Verhältnissen zu tun", sagt Kollmorgen. "Das hat eine Relevanz für die ganze Bundesrepublik." So kämpfen in Sachsen alle drei Ampel-Parteien in der Abstiegszone. SPD und Grüne lagen dort zuletzt in Umfragen jeweils bei 5 bis 7 Prozent, die FDP bei 2. Die Linke, die 2019 noch 10,4 Prozent errang, hat nur noch 3 bis 4 Prozent. Dafür sahnt ein Newcomer ab: Das erst im Januar gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht erreichte in Sachsen im Juni Umfragewerte von 15 Prozent, in Thüringen sogar 21 Prozent. Auch das BSW spricht Protestwähler an, gräbt dabei aber nicht der AfD das Wasser ab, sondern der übrigen Konkurrenz. "Beide Parteien nehmen die seriösen Parteien in den Schwitzkasten", sagt Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung im bayerischen Tutzing.

3. Die Regierungsbildung - Hürde und Wagnis

Auch wenn die AfD nach jetzigem Stand nicht regieren kann: Einfluss nehmen könnte sie trotzdem. Erreiche die AfD ein Drittel der Mandate oder mehr, hätte sie eine Sperrminorität etwa bei der Entscheidung des Thüringer Landtags über Neuwahlen oder bei der Besetzung von Richterposten, sagt Münch. Die AfD könnte parlamentarische Prozesse noch mehr als bisher lähmen.

Das gilt auch indirekt, weil eine Regierungsbildung ohne die AfD sehr schwierig wird. Dafür müssten sich sehr unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Parteien zusammenschließen. "Eine Koalition von CDU und BSW - ist das denkbar?", fragt Kollmorgen. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik sind beide Parteien weit voneinander entfernt, wie auch in der Einschätzung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Solche Bündnisse wären neu, vielleicht innovativ, "eigenartig in jedem Fall", sagt der sächsische Soziologe. Nötig sei viel Fantasie, vielleicht seien Minderheitsregierungen eine Lösung. "Das ist nicht mehr der westdeutsche Normalbetrieb", sagt Kollmorgen.

4. Der Osten ist 34 Jahre nach der Einheit sehr besonders

Ähnlich sieht es der Rostocker Politologe Muno: "In Ostdeutschland entwickelt sich ein ganz anderes Parteiensystem." Die AfD sei in den westlichen Bundesländern stark, aber eben nicht stärkste Kraft. Das BSW habe im Westen bei der Europawahl einzig im Saarland die Fünf-Prozent-Hürde geknackt. "Das ist natürlich eine politische Spaltung", sagt Muno. "Das Trennende wird sich verstärken. Dann ist man vielleicht noch weniger geneigt, sich mit Ostdeutschland auseinanderzusetzen."

Die Lage in den östlichen Ländern ist also besonders - wegen der DDR-Vorgeschichte, wegen des traumatischen Umbruchs nach der Einheit, der verbliebenen wirtschaftlichen Nachteile, wegen der geringeren Bindung an Parteien, Kirchen, Vereine, an diesen Staat. Einerseits. Andererseits sehen Experten hinter dem Unmut im Osten Entwicklungen, die der Westen genauso hat. Das Gefühl des Abgehängtseins auf dem Land, wo Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser und Einkaufsläden fehlen. Die Sorge über Migration und Sicherheit - das alles beobachtet Münch auch in Bayern.

"Es wäre westdeutsche Arroganz, zu behaupten oder zu hoffen, diese politische Entwicklung sei nur ein ostdeutsches Thema", sagt die Politologin. Ihr Kollege Kollmorgen sieht es so: "Es ist ein Prozess, der im Osten schneller, anders, radikaler läuft. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht auch den Westen und damit die ganze Bundesrepublik erfassen kann."

"Die Politik muss den Menschen klarmachen, dass wir uns in einem großen Umbruchprozess befinden"

Raj Kollmorgen, Soziologe

5. Der Osten als Zukunftslabor

Der Rostocker Muno spricht von einem "Labor": Was dem Westen noch bevorsteht, ist im Osten oft schon Realität - und dort wird erprobt, wie man damit umgeht. Das gilt auch für die Frage, wie der Zulauf zu Protestparteien wie AfD und BSW gebremst und das Zutrauen in das politische System stabilisiert werden könnte. "Wie viele wir zurückgewinnen können, das wissen wir nicht genau", sagt Muno. Ein Teil der Menschen wäre wohl zufriedener, wenn die Ampel-Koalition in Berlin besser funktionieren würde. Viele Menschen hätten jedoch viel grundsätzlichere Zweifel.

Kollmorgen sieht hinter der politischen Entwicklung eine "Verstörung wichtiger Bevölkerungsgruppen", im Osten wie im Westen: "Sie erwarten keine Lösungen mehr von denen, die am Ruder sind." Dieser Lösungsstau wiederum liege nicht an der Dummheit der Akteure, sondern im Kern an der globalen Dimension der Krisen: Klimawandel, Krieg, wirtschaftlicher Umbruch. "Diese Probleme fordern unsere Gesellschaften substanziell heraus." Der erste Schritt wäre, das deutlicher zu sagen, meint Kollmorgen. "Die Politik muss den Menschen klarmachen, dass wir uns in einem großen Umbruchprozess befinden." (dpa/fah)

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