Der sogenannte Islamische Staat hat seine letzte und wichtigste Hochburg verloren. Al-Rakka ist gefallen, Milizen wurden getötet oder sind geflohen. Das Kalifat ist am Ende, doch die Dschihadisten-Gruppe selbst noch lange nicht. Terror-Experte Rolf Tophoven erklärt, was den IS immer noch brandgefährlich macht und wohin die Kämpfer jetzt wohl flüchten.

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Nach monatelangem Kampf hat das Militärbündnis "Syrische Demokratische Kräfte" (SDF) die nordsyrische Stadt Al-Rakka zurückerobert.

Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates (IS) wurden getötet, festgenommen oder sind geflohen.

Damit hat der IS seine letzte Hochburg verloren. Nur noch wenige Gebiete in der syrisch-irakischen Grenzregion sind unter Kontrolle der Dschihadisten.

Ist das Kalifat damit am Ende? Wohin sind die Terror-Kämpfer geflohen und wie hoch ist noch die Terrorgefahr für Europa? Über diese und andere Fragen haben wir mit Terror-Experte Rolf Tophoven gesprochen.

Herr Tophoven, der IS musste einen dramatischen Rückschlag hinnehmen. Die IS-Hochburg Al-Rakka wurde von der Anti-IS-Allianz zurückerobert. Ist der sogenannte Islamische Staat noch existent?

Rolf Tophoven: Der sogenannte Islamische Staat hat seine geografische Ausdehnung und damit seinen Terrorstaat verloren. Mit der einstigen IS-Hochburg Al-Rakka ist das komplette Kommando und administrative Zentrum der Terrormiliz verloren gegangen. Damit sind hierarchische Strukturen, Befehlsstrukturen weggebrochen. Durch den Rückzug aus den Städten und die Niederlage hat sich das Gebiet des IS verlagert. Sein Territorium ist um etwa 80 bis 90 Prozent geschmolzen. Damit ist dieser "Staat" nicht mehr existent.

Wie viele IS-Kämpfer gibt es noch und wohin ziehen sie sich jetzt zurück? Gibt es präferierte Gebiete?

Es gibt noch tausende Kämpfer und tausende ausländische IS-Anhänger. Es ist anzunehmen, dass sich ein Teil des IS in das Euphrat-Tal und in ein daran angrenzendes, kaum bewohntes Wüstengebiet des Irak zurückzieht. Viele Kämpfer führen in kleineren irakischen Orten noch regionale Kämpfe.

Ein bevorzugter Fluchtweg geht aus dem Mittleren und Nahen Osten in Länder mit staatlichen Freiräumen. Also Länder, die einen schwachen Staat aufweisen. Dazu zählen unter anderem Mali und Somalia.

Allein 6.000 Tunesier haben sich dem IS als Kämpfer angeschlossen. Die wollen vielleicht wieder zurück und bilden einen gefährlichen innenpolitischen Sprengsatz.

Außerdem haben wir ein sensitives Gebiet im Nord-Sinaii. Dort stellt sich die ägyptische Armee gegen IS-Kämpfer.

Aufgrund der unübersichtlichen politischen Situation in Libyen ist dieses Land für die Terrormiliz ebenfalls ein attraktives Ziel.

Wie sieht die Lage im Irak und Syrien aus?

Für den Irak und Syrien ist zu erwarten, dass IS-Kämpfer in den Untergrund gehen. Dort werden sie einen Guerilla-Krieg führen. Einen Kleinkrieg, der sich durch Anschläge in den großen Städten Aufmerksamkeit verschafft.

Der IS wird nicht aufgeben. Wir haben das vor der Etablierung des Kalifats bereits erlebt. Die Situation wird ähnlich sein.

Zudem ist anzunehmen, dass die Miliz Stämme im Irak infiltriert hat. Diese Technik ist für den IS sehr wichtig. Schläferzellen waren schon immer eine Besonderheit des sogenannten Islamischen Staates.

Bevor die Kämpfer Städte in Syrien erobert haben, wurden Emissäre gesandt. Die haben soziale Strukturen ausspioniert, sensible Informationen gesammelt. Nach der militärischen Übernahme wurden Menschen dann damit erpresst. Diesbezüglich hat der IS perfekt wie ein Nachrichtendienst gearbeitet.

Woher kommt diese Expertise?

Die Experten dafür kamen aus dem ehemaligen Lager Saddam Husseins. Was ebenfalls auffällt: Die bedeutendsten und brutalsten IS-Kämpfer sind Tschetschenen. Diesbezüglich ist beim IS ein großes Know-how vorhanden.

Die Fußsoldaten, die sich im Namen Allahs in die Luft sprengen, sind also nicht entscheidend. Es sind die Profis im Hintergrund: die Führungsoffiziere, die Kommandeure. Das sind die Leute, die wissen, wie man taktisch-operativ vorgeht.

Wurde mit der Eroberung der IS-Hochbuch Al-Rakka eine Zeitwende eingeleitet?

Der vor drei Jahren ausgerufene sogenannte Islamische Staat ist noch lange nicht besiegt. Zum einen wissen wir nicht genau, ob der Führer Abu Bakr Al-Baghdadi noch lebt. Geheimdienste vermuten, dass er untergetaucht ist. Es ist auch anzunehmen, dass der IS Waffenexperten außer Landes gebracht hat.

Zudem hat die Terrormiliz noch immer zahlreiche Anhänger in vielen Ländern – zumindest im Nahen und Mittleren Osten, in der arabischen, muslimischen Welt.

Die Ideologie der Terrormiliz existiert nach wie vor. Die lässt sich nicht mit Waffen bekämpfen.

Der IS ist dafür bekannt, diese Ideologie durch eine moderne Propagandamaschinerie zu verbreiten …

Darüber verfügt er nach wie vor. Der IS operiert vor allem über soziale Medien. Die internationale Kommunikationsstrategie über das Zentrum Amaq ist noch existent.

Und es gibt weiterhin das eigene Propaganda-Magazin Rumiyah (Rom). Darin finden Anhänger Informationen zum Bau von Bomben und zum Durchführen von Attentaten.

Kann sich der IS reorganisieren, Land und Einfluss zurückgewinnen?

Eine Art staatliches Gebilde mit perfekten Strukturen bis auf die unterste Ebene, wie es in Al-Rakka der Fall war, wird es nicht mehr geben. Aber es gibt eine große Unbekannte: Im Irak verfügte der IS über eine Abteilung für externe Operationen.

Diese Abteilung hat zum Teil auch Anschläge in Europa über Messenger-Chats terminiert und Anschläge bis Sekunden vor dem Anschlag gesteuert.

Etwaige Beweise gibt es für die Anschläge in Würzburg, Ansbach und Berlin. Noch bis kurz vor den Anschlägen wurde aus dieser Abteilung heraus mit den Attentätern kommuniziert.

Diese terroristische Fernsteuerung ist völlig neu in der Szene. Diese Abteilung, in welcher Form auch immer, ist sicher noch in Funktion.

Und die Marke IS ist nach wie vor auf dem terroristischen Markt. Ob sich die Anhänger allerdings weiter unter dem Logo des IS firmieren, bleibt abzuwarten. Es gibt Experten, die vermuten, dass sich Terrorgruppen zusammenschließen, etwa Al-Kaida und der IS.

Ist die Terrorgefahr in Europa jetzt gestiegen?

Terroranschläge sind nicht auszuschließen. Jemand, der mit dem Rücken zur Wand steht, ist immer gefährlich. Viele IS-Anhänger haben ihr Know-how und die "Lizenz zum Töten" mitgenommen.

Ich erinnere: Etwa 5.000 Kämpfer aus Westeuropa haben sich dem IS angeschlossen. Davon kommen zwischen 800 und 900 aus Deutschland, 1.200 aus Großbritannien, 1.000 aus Frankreich und 500 aus Belgien.

Die deutschen Sicherheitsbehörden vermuten, dass von vielen Rückkehrern nicht alles bekannt ist. Aus diesen Kreisen könnte ein Anschlag kommen.

Es kann aber auch sein, dass erst einmal nichts passiert, weil der IS sich regruppieren muss.

Bezüglich der Bekämpfung des IS zitiere hier gerne den Satz eines amerikanischen Kollegen: "Terrorismusbekämpfung ist wie ein Marathon-Lauf, nur gibt es keine Ziellinie."

Rolf Tophoven ist Terror-Experte und Direktor des Instituts für Krisenprävention (IFTUS) in Essen.

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