Der Verfassungsschutzbericht widmet "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern" erstmals ein eigenes Kapitel und spricht von zunehmendem "Bedrohungspotenzial". Experte Martin Schubert erklärt, welche Gedanken die Staatsleugner teilen und wo Unterschiede liegen.

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Horst Seehofer hat im Verfassungsschutzbericht bereits eine harte Gangart angekündigt: "Wer die Existenz unseres Staates ablehnt und dessen Vertreter beleidigt, bedroht oder sogar tätlich angreift, muss und wird mit einer konsequenten Reaktion der Sicherheitsbehörden rechnen", schreibt der Innenminister in Bezug auf Reichsbürger und Selbstverwalter im Vorwort.

Denn: Auch wenn es sich um Extremfälle handelte, haben Reichsbürger und Selbstverwalter spätestens mit der Schießerei bei einer Zwangsräumung in Sachsen und dem Polizistenmord in Bayern im Jahr 2016 ihr Gewaltpotenzial unter Beweis gestellt.

Auch der Zulauf der Szene ist alarmierend. Der bedeutendste Gradmesser für innere Sicherheit spricht in Bezug auf das Jahr 2017 von 18.000 Reichsbürgern und Selbstverwaltern, im Jahr zuvor waren es noch 10.000.

Überbegriff "Staatsleugner" und "Staatsaussteiger"

Reichsbürger und Selbstverwalter erscheinen im Verfassungsschutzbericht daher auch erstmals mit einem eigenen Kapitel. Stets ist im Verfassungsschutzbericht in einem Atemzug von den Gruppierungen die Rede. Wo aber liegen die Unterschiede?

Politikwissenschaftler und Szene-Kenner Martin Schubert beginnt zunächst bei den Gemeinsamkeiten: "Sowohl Selbstverwalter als auch Reichsbürger leugnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Beide Gruppierungen fühlen sich dem Staatsapparat nicht zugehörig und reklamieren für sich einen Ausstieg aus dem Staat", so Schubert.

Erstmalig fallen die Staatsleugner deshalb meist im Zusammenhang mit Behörden auf – etwa, wenn sie aufgrund ihrer Ideologie keine Steuern zahlen wollen, den Rundfunkbeitrag ablehnen oder ihren Personalausweis zurückgeben wollen.

"Ämter werden in diesen Zusammenhängen mit seitenlangen Briefen nahezu terrorisiert. Teilweise kommt es auch vor, dass Reichsbürger und Selbstverwalter die Justiz mit maltesischen Inkasso-Unternehmen einschüchtern wollen", berichtet Schubert.

Unterschiedliche Argumentationsmuster

Auch wenn die Theorien und Methoden allesamt krude und verschwörungstheoretisch anmuten - es gibt Unterschiede. "Die Reichsbürger argumentieren mit dem Fortbestehen des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Dieses Ideologieversatzstück teilen die Selbstverwalter nicht", erläutert Schubert.

Die Selbstverwalter beriefen sich vorrangig auf ein "Naturrecht", nach dem sie als "natürliche Person" keine Pflicht hätten, Mitglied eines Staates zu sein. Neben pseudojuristischen Argumenten würden sie auch Artikel aus Erklärungen der Vereinten Nationen zu Menschenrechten heranziehen. "Sie basteln sich die unterschiedlichsten Erklärungsmodelle zusammen, die begründen sollen, warum sie kein Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind", sagt Schubert.

Fließende Übergänge

Gleichzeitig betont Schubert aber: "Die Grenzen zwischen Reichsbürgern und Selbstverwaltern sind nicht trennscharf, sonst hätte auch der Verfassungsschutzbericht die geschätzten 18.000 Personen auch noch einmal aufgeschlüsselt." Durch die fließenden Übergänge käme es auch zu Fluktuation: "Es kommt vor, dass ein ursprünglicher Selbstverwalter die Ideologie der Reichsbürger übernimmt und andersherum", so der Politikwissenschaftler weiter.

Seehofer wies in der Pressekonferenz ebenfalls auf die mannigfaltigen Spielarten hin: "Sie sind sowohl organisatorisch und ideologisch sehr heterogen", so der Innenminister. Gerade durch die niedrigschwellige Organisation der Szene ist es schwierig, ihre Größenordnung einzuschätzen. Zwar verzeichnen Reichsbürger und Selbstverwalter dem Verfassungsschutzbericht zufolge ein Plus von gut 80 Prozent, Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen aber relativierte: "Die Informationsgewinnung wird immer besser."

Schubert warnt ebenso davor, das Potenzial und den Zuwachs der Szene nur auf Zahlengrundlage zu beurteilen. "Wir wissen nicht, wie hoch die Dunkelziffer ist. Die Einschätzung der Größenordnung kommt vor allem durch Meldungen von öffentlichen Stellen zustande, viele Selbstverwalter dürften aber auch nur im privaten oder nachbarschaftlichen Bereich auffallen", sagt der Szene-Kenner.

Gefährlich: "Recht auf Notwehr"

Vor allem das Internet samt der sozialen Netzwerke bietet den Reichsbürgern und Selbstverwaltern eine Plattform, um sich zu vernetzen und weitere "Quellen" für ihre Argumentation zu finden. Einige treffen sich auf Stammtischen, bieten Seminare an oder organisieren sich in einzelnen Gruppierungen. "Manche Selbstverwalter rufen aber auch einfach nur ihr eigenes Staatsterritorium aus und stellen ein Schild auf ihrem Grundstück auf, ohne sich weitergehend zu vernetzen", weiß Schubert.

Mit dem Ausruf des eigenen Staatsterritoriums ist es aber meist nicht getan: Selbstverwalter beanspruchen für dieses Territorium ein "Recht auf Notwehr". Experte Schubert sieht darin die größte Gefahr: "Das eigene Staatsgebiet darf in den Augen der Selbstverwalter verteidigt werden, im äußersten Fall auch mit Waffengewalt." So geschehen im Jahr 2016 in Bayern, als ein Vertreter der Szene einen Polizisten erschoss, um sein Territorium "zu verteidigen".

Hohe Affinität zu Waffen

Der Verfassungsschutz hat diese Bedrohungslage nun auch erkannt: Seehofer sprach von "hoher Affinität zu Waffen", Maaßen wollte gar Terroranschläge nicht ausschließen. Im Verfassungsschutzbericht heißt es dazu: "Der Anteil von knapp 7 Prozent der Szeneangehörigen mit waffenrechtlichen Erlaubnissen liegt höher als in der Gesamtbevölkerung (ca. 2 Prozent)".

"Die angegebenen 1.100 Reichsbürger und Selbstverwalter mit waffenrechtlicher Erlaubnis sind sicherlich die Risikogruppe innerhalb der Szene", sagt Schubert. Die Verfassungsschutzbehörden haben laut Bericht bis zum Stichtag 31. März 2018 bereits zu 750 Reichsbürgern und Selbstverwaltern Erkenntnisse an die Waffenbehörden übermittelt. In der Folge seien rund 450 Personen ihre waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen worden.

Welcher Auswuchs der Staatsleugner-Szene gefährlicher ist, will Schubert nicht abschließend beurteilen. "In beiden Gruppierungen zählen Beleidigungen, Nötigungen, Bedrohungen, Urkundenfälschung und illegaler Waffenbesitz zu den Straftatbeständen", weiß Schubert. Wie groß die Gefahr sei, hänge aber letztlich von der individuellen Person ab. "Dabei spielt das vorhandene Aggressionspotenzial ebenso eine Rolle wie die Wahnhaftigkeit des Individuums", erläutert der Experte. Die Kombination aus Waffenbesitz und wahnhaften Vorstellungen sei aber immer gefährlich.

Prototyp: Männlich und über 40

Der Verfassungsschutz beschreibt den prototypischen Selbstverwalter als "männlich und älter als 40 Jahre". Schubert fügt hinzu: "Anfällig für die Szene sind Menschen, die in ihrem Leben Brüche erfahren haben und auf der Suche nach Erklärungsansätzen sind." Oft wurzele der Szeneeinstieg in psychosozialen und pathologischen Problemen. "Entsprechend breit muss auch die Palette zur Szene-Bekämpfung sein. Sie reicht von Therapie bis zu juristischen Mitteln", urteilt Schubert. Wichtig sei es außerdem, dem Missionseifer der Selbstverwalter keinen Raum zu geben.

Auch Überschneidungen mit dem Rechtsextremismus sind gegeben. Der Verfassungsschutzbericht weist 900 der 18.000 Reichsbürger und Selbstverwalter als solche aus.

"Nicht alle Selbstverwalter sind manifest rechtsextrem", sagt Schubert. Die Schnittmenge der Sympathisanten dürfte hingegen groß sein. Somit fallen erneut eher die Gemeinsamkeiten auf: All jene Strömungen bedrohen unsere Demokratie und ein friedliches Miteinander.

Über den Experten: Martin Schubert studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Skandinavistik in Greifswald und arbeitete bereits studienbegleitend im Feld der politischen Bildungsarbeit und Demokratieförderung. Seit April 2017 ist Schubert Berater im Mobilen Beratungsteam Trebbin, das auch über Reichsbürger und Selbstverwalter aufklärt und Behörden berät.
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