• Die frühere Linken-Chefin Katja Kipping ist seit kurzem Sozialsenatorin in Berlin.
  • Zu Kippings Aufgaben gehört eine besondere Herausforderung: Die Europäische Union will bis 2030 die "Obdachlosigkeit überwinden", Deutschlands Hauptstadt will dabei Vorreiterin sein.
  • Wie kann das funktionieren in einer Stadt, in der Tausende Menschen auf der Straße leben?

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Katja Kipping hat einige Tage über das Angebot nachgedacht – dann hat sie Ja gesagt. Im vergangenen Herbst hatte die Spitze der Berliner Linken bei der früheren Parteivorsitzenden nachgefragt, ob sie in der Hauptstadt Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales werden will. Sie wollte.

Seit wenigen Wochen ist Kipping nun in ihrem neuen Amt, in dem es an Herausforderungen nicht mangelt. Sie sei für 49 Themen zuständig, betont sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Kipping will die Bundeshauptstadt zur "Vorreiterin für gute Arbeit und Ausbildungsplätze" machen, will die Tarifbindung stärken. Sie will dazu beitragen, dass die vielen Berlinerinnen und Berliner mit Migrationshintergrund als Teil des kulturellen Reichtums verstanden werden.

Und dann ist da noch ein Thema, bei dem schon Kippings Vorgängerin große Erwartungen geweckt hatte: die Bekämpfung der Obdachlosigkeit

Berlin will Vorreiterin beim Kampf gegen Obdachlosigkeit werden

Im vergangenen Sommer hat die EU das ehrgeizige Ziel ausgerufen: Bis zum Jahr 2030 sollen die Mitgliedstaaten die Obdachlosigkeit überwunden haben. Dieser Aufgabe müssen sich Politikerinnen und Politiker in ganz Europa stellen, Berlin hat sich auf dem Gebiet aber besonders viel vorgenommen.

Kippings Vorgängerin Elke Breitenbach und ihr Staatssekretär Alexander Fischer stellten im vergangenen September einen eigenen Masterplan auf und schrieben darin: Berlin könne von der "Hauptstadt der Obdachlosigkeit" zur europaweiten Vorreiterin bei ihrer Bekämpfung werden. Den Masterplan umzusetzen, ist jetzt Kippings Aufgabe.

Mehrere Tausend Menschen leben in der Hauptstadt auf der Straße

Obdachlosigkeit ist in Berlin so deutlich und schmerzlich sichtbar wie in vielleicht keiner anderen deutschen Stadt. Im Januar 2020 haben Freiwillige im Auftrag des Senats die Obdachlosen im Stadtgebiet gezählt. Sie kamen damals auf rund 2.000 Menschen. Wohlfahrtsverbände gehen aber je nach Schätzung von 6.000 bis 10.000 Betroffenen aus.

Katja Kipping betont, dass es viele Gründe für die hohe Zahl an Obdachlosen gebe: "Eine Bundeshauptstadt ist immer auch ein Magnet. Urbane Räume mit vielen Menschen auf den Straßen eignen sich eher zum Verkauf von Wohnungslosenzeitungen als dünn besiedelte Regionen", sagt sie. "Zudem haben wir in Berlin einen sehr angespannten Wohnungsmarkt."

"Housing first": Die eigene Wohnung als Basis

Die neue Sozialsenatorin sagt aber auch: "Im Vergleich zu anderen Städten zeigt Berlin sehr viel Einsatz für Wohnungslose." Als Vorzeigeprojekt gilt "Housing First": ein Konzept, das aus den USA stammt und seit drei Jahren vom Verein für Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH auch in der Bundeshauptstadt umgesetzt wird.

Bisher steht eine eigene Wohnung für Obdachlose häufig am Ende eines langen Prozesses: Sie kamen zum Beispiel zunächst in eine Schlafstelle, dann in eine betreute Wohngemeinschaft, mussten mühsam ihre "Wohnfähigkeit" beweisen, bevor sie eine eigene dauerhafte Unterkunft bekamen.

Bei "Housing First" fängt dagegen alles damit an: Äußert ein obdachloser Mensch den Wunsch, dauerhaft in einer Wohnung zu leben, suchen die Sozialarbeitenden zuerst eine entsprechende Bleibe, in der sie oder er unbefristet wohnen kann.

Sie gilt als Basis, um das Leben Schritt für Schritt bewältigen zu können. Ist die Wohnung gefunden und bezogen, gehen die Betreuenden mit der Person die nächsten Schritte an: der Kampf gegen eine mögliche Suchterkrankung oder die Suche nach einer Arbeitsstelle zum Beispiel. Dieses System ist nach Überzeugung der früheren Senatorin Breitenbach unter dem Strich auch günstiger, als Menschen jede Nacht in einer Notunterkunft unterzubringen.

Vorzeigeprojekt will wachsen

Mehr als 80 Personen habe er zusammen mit einem Partnerprojekt auf diese Weise untergebracht, sagt Sebastian Böwe von "Housing First Berlin". Die Pilotphase ist nach drei Jahren beendet – jetzt muss der rot-grün-rote Senat sein Versprechen wahrmachen und das Projekt verlängern, vielleicht sogar ausbauen.

"Wir wollen uns vergrößern, verdoppeln, verdreifachen", sagt Böwe. Wohnungen zu finden, sei nicht das Problem. Er arbeitet mit den großen Berliner Wohnungsbaugesellschaften, aber auch mit Unternehmen wie Vonovia und Deutsche Wohnen zusammen. "Das Problem ist, dass wir die Betreuung sicherstellen müssen. Denn das sind die Zauberworte: Betreuung, Beratung, Unterstützung."

Berlin hat sich zudem eine bessere Koordinierung und Digitalisierung der Wohnungslosenhilfe vorgenommen. Die Vielzahl von Instrumenten könne dazu führen, dass Ehrenamtliche und Beschäftigte "von Pontius zu Pilatus laufen müssen", sagt Katja Kipping. "Eine digitale zentrale Übersicht über die Unterkünfte soll es erleichtern, dass der Mensch, der ein Bett sucht, und die vorhandenen Unterbringungsmöglichkeiten direkt zusammen kommen." Technisch sei das vergleichbar mit einem zentralen Hotelbuchungssystem.

Hinzu kommt der Ruf nach mehr bezahlbarem Wohnraum, der in der Bundeshauptstadt besonders laut ist: Berlin war 2017 die Stadt mit den stärksten Mietsteigerungen weltweit. Seitdem hat sich die Entwicklung kaum verlangsamt. Vor diesem Hintergrund stimmten 56,4 Prozent der Berlinerinnen und Berliner 2021 bei einem Volksentscheid für die Enteignung großer Wohnungskonzerne.

Die Stadtregierung aus SPD, Grünen und Linken ist sich uneins, wie sie mit dem Votum umgehen will. Wichtig sei, dass ein mögliches Vergesellschaftungsgesetz vor Gerichten bestand hat, sagt Kipping. "Wie das Ganze ausgeht, kann ich nicht sagen. Ich weiß aber genau, dass die Linke wild entschlossen ist, da vollen Einsatz zu zeigen."

Aufwärmen im Hofbräuhaus

Die Corona-Pandemie stellt Obdachlose vor zusätzliche Probleme. Wenn sie sich in Bussen, Bahnen oder Bahnhöfen aufhalten wollen, brauchen sie einen 3G-Nachweis. Tagestreffs, in denen sich Menschen im Winter aufwärmen können, mussten zudem ihre Platzzahlen reduzieren, um Hygienevorgaben einzuhalten. In Berlin finanziert die Senatsverwaltung für Soziales daher einen Tagestreff, den der soziale Träger GEBEWO pro im Hofbräuhaus betreibt. Das Wirtshaus am Alexanderplatz stellt dafür eine gesamte Etage zur Verfügung.

Bis zu 200 Menschen können sich dort in diesem Winter tagsüber aufhalten, können sich auf Corona testen, medizinisch beraten und impfen lassen. Sozialarbeiterinnen sind vor Ort, es gibt eine Kleiderkammer, heiße Getränke und eine warme Mahlzeit aus der Wirtshausküche.

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Ein 62-Jähriger packt an einem späten Januarnachmittag dort gerade seine Sachen zusammen. Vor ihm liegen der Abend und die Nacht, die er wahrscheinlich in S-Bahnen und Bussen totschlagen wird. Die Obdachlosigkeit abschaffen bis 2030? Das sei doch eher eine Vision, sagt der Mann.

Er glaubt, dass 20 Prozent der Menschen, die auf der Straße leben, gar nicht anders leben wollen. Und für den Rest? "Man müsste viel früher ansetzen", sagt er. "Damit die Leute gar nicht erst in der Obdachlosigkeit landen. Die Regelsätze müssen hoch, es muss mehr Geld für die Armen geben."

Katja Kipping: "Das Enttäuschendste sind Politiker ohne Ziele"

"Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig", sagt auch Katja Kipping. "Sie beginnen mit unzureichenden Sozialleistungen, einem angespannten Wohnungsmarkt, versagenden Sicherheitsnetzen." Hinzu komme: "Menschen, die auf der Straße landen, haben oft ein Päckchen an Problemen zu tragen. Es gibt Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und deshalb erstmal allen anderen misstrauen."

Die Senatorin war zu Beginn ihrer Amtszeit mit dem Kältebus zu Obdachlosen unterwegs, die auch im Winter nachts im Freien ausharren. Eine Ehrenamtliche erzählte ihr dort von einer Frau, die aus Misstrauen anfangs nicht einmal eine Tasse Tee annehmen wollte. Inzwischen unterhalte sie sich mit dem Team. "Auch wenn Menschen wohnungslos sind, muss man ihnen mit dem gleichen Respekt begegnen. Bevormundung ist der falsche Weg", sagt Kipping.

Jedem wird nicht zu helfen sein. Auch deshalb drängt sich die Frage auf, warum die Politik überhaupt so hehre Versprechen wie die Überwindung der Obdachlosigkeit abgibt. Öffnet das nicht viel Raum für Enttäuschungen, wenn sich diese Versprechen nicht einhalten lassen?

"Wir in Berlin werden auf jeden Fall alles tun, um so viele Menschen wie möglich aus der Wohnungslosigkeit rauszuholen", sagt Kipping. Sie betont, dass die EU das Versprechen gegeben habe – und nun auch Mittel dafür liefern müsse. Sie selbst kann mit der Verantwortung, die auf ihr liegt, aber gut leben: "Ich finde, das Enttäuschendste sind vielmehr Politiker, die keine Ziele haben außer ihrer eigenen Karriere. Insofern finde ich es gut, wenn ehrgeizige inhaltliche Ziele gesetzt werden."

Quellen:

  • Gespräch mit Katja Kipping
  • Gespräch mit Sebastian Böwe
  • Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030
  • Webseite von "Housing First Berlin"
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