Arbeitsminister Hubertus Heil fordert eine Debatte über die Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens. Im Interview erklärt SPD-Vize Ralf Stegner, warum die Debatte aus SPD-Sicht nötig ist - und erklärt die Idee hinter dem solidarischen Grundeinkommen.

Ein Interview

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), hat bereits im Oktober 2017 in einem Gastbeitrag im "Tagesspiegel" ein solidarisches Grundeinkommen ins Gespräch gebracht.

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Vor gut einer Woche legte er in der "Berliner Morgenpost" nach - und forderte das Ende von Hartz IV.

Stattdessen sollen Langzeitarbeitslose einen vom Staat komplett finanzierten Arbeitsplatz angeboten bekommen - im sozialen Bereich, mit Sozialversicherung und zum Mindestlohn, aber ohne Zwang. Brutto könnte es 1.500 Euro geben.

Nach SPD-Vize Ralf Stegner, Fraktionsvize Karl Lauterbach und der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat sich jetzt auch Arbeitsminister Hubertus Heil (ebenfalls SPD) positiv zu der Idee geäußert.

Im Interview mit unserem Portal erklärt Stegner, warum eine Abschaffung von Hartz IV 15 Jahre nach der Einführung notwendig ist, wie ein solidarisches Grundeinkommen funktionieren soll - und wie die Chancen auf eine Umsetzung sind.

Herr Stegner, Sie haben im "Spiegel" eine Alternative zu Hartz IV gefordert. Warum braucht es das jetzt?

Ralf Stegner: Wir haben andere Zeiten. Als Hartz IV eingeführt wurde, hatten wir fast fünf Millionen Arbeitslose. Heute müssen wir den Sozialstaat fit machen fürs 21. Jahrhundert.

Wir haben jetzt eine deutlich geringere Arbeitslosigkeit, sogar Fachkräftemangel. Und wir haben die Digitalisierung, die viele Berufsfelder verändert.

Gleichzeitig kommen viele Langzeitarbeitslose einfach nicht in Arbeit, obwohl die allermeisten das wollen. Sie haben daher kaum Aussichten auf ein besseres Leben.

Was fordern Sie stattdessen?

Dass alle Menschen arbeiten können - vernünftig bezahlt und sozialversichert. Wir haben im jetzigen Koalitionsvertrag ja bereits einen sozialen Arbeitsmarkt verankert. Das ist ein guter Schritt.

Gerade in Zeiten der Digitalisierung und von starken Veränderungen der Arbeitswelt brauchen wir ein Baukastensystem, das die neuen Gegebenheiten abbildet.

Wie soll das aussehen?

Erstens ein solidarisches Grundeinkommen, wie es Michael Müller vorschlägt - also ein geförderter sozialer Arbeitsmarkt, aber mit Mindestlohn und Sozialversicherungspflicht. Denn es gibt genug Arbeit, die wird nur nicht ordentlich bezahlt. Das müssen wir ändern.

Zweitens ein sanktionsfreies Existenzminimum, damit niemand in Deutschland hungern oder frieren muss. Das ist ganz klar.

Und drittens eine eigenständige Kindergrundsicherung, weil Kinderarmut in Deutschland ein großes Problem ist.

Aber wir müssen noch an mehr denken: Der Mindestlohn sollte kontinuierlich steigen, wir brauchen Tarifbindung auch im Niedriglohn-Bereich. Der Schlüssel für die Arbeitswelt des Digitalzeitalters ist ein lebenslanges Anrecht auf Qualifizierung und Weiterbildung - dafür hat Andrea Nahles mit dem 'Chancenkonto' bereits letztes Jahr einen guten Vorschlag gemacht.

Wenn man das zusammennimmt, dann haben wir ein gutes Konzept, um auf die Digitalisierung zu antworten, Armut zu vermeiden und für gute Arbeit zu sorgen.

Das heißt: Hartz IV komplett abschaffen?

Ja, ersetzen mit einer modernen Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Durch ein solidarisches Grundeinkommen, das im Gegensatz zum 'bedingungslosen Grundeinkommen' - wie das ja einige vorschlagen, von den Linken über die Grünen bis hin zu Liberalen und Konservativen - auf dem Prinzip der Arbeit aufbaut - und zwar der guten Arbeit. Das heißt, dass man von jeder Vollzeitarbeit auch leben können muss.

Das würde dann über staatliche Stellen und die Kommunen finanziert werden müssen - Michael Müller rechnet unter Verweis auf eine Beispielrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit Kosten von 500 Millionen Euro für 100.000 Arbeitslose.

Dafür würden wir aber viele Folge- und Reparaturkosten vermeiden. Denn das aktuelle System schreibt zu viele ab und ist mit hohem Bürokratieaufwand beispielsweise bei der Sanktionierung verbunden.

Und dazu kommt noch, dass Probleme in der Erwerbsbiografie zu kleinen Renten führen. Das verschiebt das Problem nur.

Und wer weiterhin nicht arbeitet oder arbeiten kann?

Das Existenzminimum muss weiterhin jeder bekommen, der bedürftig ist.

Aber viele, die erwerbsfähig sind, kommen heute kaum auf dem ersten Arbeitsmarkt unter. Die müssen ein Angebot bekommen und im Zweifel auf dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt eine Chance bekommen - mit Mindestlohn und Sozialversicherungspflicht. Für Kinder muss es eben eine gesonderte Grundsicherung geben, denn die Absicherung von Kindern kann man nicht über Arbeit steuern.

Das wäre ein modernes, innovatives Sozialstaatskonzept - und den ersten Schritt gehen wir schon: Mit dem sozialen Arbeitsmarkt haben wir in der großen Koalition einen Teil schon verabredet. Das kostet vier Milliarden Euro. Das haben wir der Union hart abtrotzen müssen.

Gerade Teile der Union sehen aber kein Problem bei Hartz IV, beispielsweise CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn. Sehen Sie dennoch die Möglichkeit, das, was Sie fordern, mit der Union umzusetzen?

Erst einmal ist das eine ziemlich hochnäsige Sicht auf Menschen, die in Schwierigkeiten sind. Und ich finde beispielsweise, dass wir in einem so reichen Land keine Kinderarmut dulden dürfen.

Wir wollen die Debatte nicht rückwärtsgewandt führen, sondern in die Zukunft blicken - gerade in Bezug auf die Digitalisierung ändert sich viel. Es geht hier um eine Zukunftsdebatte: Wie kann unser Sozialsystem in unserer Zeit und auch in zwanzig Jahren noch funktionieren?

Noch einmal: Ist das schnell durchsetzbar oder eher ein Punkt in Hinblick auf die Neuaufstellung der SPD?

Mit dem sozialen Arbeitsmarkt bauen wir jetzt schon eine Brücke in diese Richtung. Mit der Union sind solche Zukunftsprojekte schwer zu machen.

Aber die SPD ist auch nicht mit der Union verheiratet, wir sind als SPD linke Volkspartei und Alternative zur Union.

Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, Hartz IV zu erhöhen?

Nein, die Frage ist viel größer. Wir wollen, dass Menschen arbeiten können für ein selbstbestimmtes Leben und deshalb möglichst wenige Menschen Sozialtransfers brauchen.

Die, die nicht arbeiten können, müssen ordentliche Sozialtransfers bekommen. Alle, die arbeiten wollen - und das sind die meisten - müssen aber eine Arbeit bekommen, von der sie leben können. Und Arbeit ist auch genug da.

Und wenn jemand nicht arbeiten will?

Dann gibt es das Existenzminimum, aber auch nicht mehr, also auch keine höheren Sozialtransfers.

In einem reichen Land darf niemand hungern oder frieren. Da darf es auch keine Abstriche geben, das hat das Verfassungsgericht ja auch schon deutlich gesagt.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Stegner.

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