Angela Merkel geht in einer Bierzeltrede auf Abstand zu den USA und zur Regierung Trump. Für Europa bietet mehr Eigenständigkeit durchaus Chancen, sagt ein Experte. Aber ist "mehr Europa" in der EU überhaupt mehrheitsfähig?

Ein Interview
von Thomas Fritz

Europa und Deutschland müssten selbständiger werden, fordert Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Bierzeltrede in München. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten", seien "ein Stück vorbei", rief die CDU-Vorsitzende in Richtung USA. Kommt jetzt eine neue Weltordnung mit einer Supermacht Europa? Matthias Kullas vom Centrum für Europäische Politik erklärt, wie die EU von einer vertieften Integration profitieren könnte was einem stärkeren Europa im Wege steht.

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Herr Kullas, deutet Merkels Bierzeltrede tatsächlich auf eine Zäsur in den europäisch-amerikanischen Beziehungen hin?

Matthias Kullas: Die Zäsur war die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Die Aussage von Angela Merkel ist eine Reaktion auf die damit einhergehenden Veränderungen. Als Konsequenz möchte sie die EU stärken. Ohne die USA lassen sich die größten Herausforderungen – wie Terrorismus, Bekämpfung der Flüchtlingsursachen oder Klimawandel – nur lösen, wenn die EU-Mitgliedstaaten mit einer Stimme sprechen.

Was könnte Merkel noch zu den deutlichen Worten bewogen haben?

Die Aussage ist auch Wahlkampf. Bereits in vergangenen Wahlkämpfen hat Angela Merkel klassische SPD-Forderungen vertreten und so die SPD klein gehalten. Etwa als sie einen Mindestlohn oder höhere Renten für Arbeitnehmer mit vielen Beitragsjahren versprach. Diesmal möchte sie der SPD das Thema "mehr Europa" nicht überlassen.

Reden wir über die Chancen der derzeitigen Situation. Könnte Europa durch ein größeres Lossagen von den USA neue wirtschaftliche Märkte erschließen?

Ein Lossagen von den USA ist weder ratsam noch notwendig, um neue Märkte zu erschließen.
Warum nicht?
Auch ohne ein Lossagen hat der US-Präsident die Erschließung neuer Märkte für die EU sehr erleichtert. Die protektionistische Handelspolitik von Donald Trump – z.B. der Ausstieg aus dem Transpazifischen Freihandelsabkommen TPP oder die Ankündigung, das Freihandelsabkommen NAFTA zu kündigen – hat den Abschluss europäischer Freihandelsabkommen stark erleichtert. So hat Trump durch die Aufkündigung der TPP die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan merklich beschleunigt. Auch das Handelsabkommen zwischen Mexiko und der EU soll ausgeweitet werden, weil Trump NAFTA in Frage gestellt hat. Beide Abkommen werden europäischen Unternehmen die Möglichkeit geben, neue Märkte zu erschließen.

Könnte sich die EU durch eine stärkere Integration noch besser in Forschung und Entwicklung aufstellen?

Bereits heute gibt es auf EU-Ebene zahlreiche Bemühungen, die Integration von Forschung und Entwicklung zu verbessern. Die Maßnahmen sehen unter anderem gemeinsame Forschungsschwerpunkte, gemeinsame Projektfinanzierungen oder eine bessere grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Wissenschaftlern vor. Die größte Hürde für bessere Forschung und Entwicklung lässt sich durch mehr Integration jedoch nicht lösen.

Welche ist das?
Die EU-Mitgliedstaaten müssten zum einen ihre nationalen Haushalte so anpassen, dass mehr Geld für die Förderung von Forschung und Entwicklung bereitgestellt wird. Zum anderen müssen sie die Rahmenbedingungen so ändern, dass Unternehmen wieder mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Beides kann nur auf nationaler Ebene geschehen.

Ist es möglich, dass aufgrund der neuen US-Außenpolitik die diplomatische Stimme Europas in weltweiten Krisen und Herausforderungen stärker Gehör findet?

Das wäre wünschenswert. Ich halte es allerdings für wenig wahrscheinlich. Die außenpolitischen Interessen der EU-Mitgliedstaaten sind aufgrund ihrer unterschiedlichen geografischen Lage, ihrer unterschiedlichen Handelspartner und nicht zuletzt aufgrund ihrer unterschiedlichen Geschichte sehr heterogen. Die EU-Mitgliedstaaten sind deshalb nur selten in der Lage, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Daran wird sich auch in Zukunft nicht viel ändern.

In den letzten Jahren haben anti-europäische Kräfte starken Zulauf erhalten. Wie sehr ist es innerhalb der EU überhaupt gewollt, dass "mehr Europa", also eine verstärkte europäische Integration, tatsächlich eine Antwort auf die neue US-Politik ist?
Gewollt ist es von Angela Merkel sicherlich. Auch der neue französische Präsident Emmanuel Macron möchte "mehr Europa". Aufgrund der gegenwärtigen US-Politik ist "mehr Europa" die einzige Möglichkeit, wenn Europa aktuelle Probleme – wie Klimawandel oder Terror – lösen möchte.
Wird "mehr Europa" tatsächlich gelingen?

Das hängt davon ab, ob die Euro-Krise dauerhaft überwunden werden kann. Denn die Euro-Krise führt dazu, dass der deutsch-französische Integrationsmotor stockt und die anti-europäischen Stimmen Auftrieb haben.

Zur Person: Matthias Kullas ist Fachbereichsleiter am Centrum für Europäische Politik (CEP) in Freiburg. Seine Schwerpunkte sind Digitale Wirtschaft, Wirtschafts- und Fiskalpolitik sowie Binnenmarkt und Wettbewerb.
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