Istanbul wählt einen neuen Bürgermeister - zum zweiten Mal in diesem Jahr, denn der AKP hat der Sieg des sozialdemokratischen Kandidaten Ekrem Imamoglu Ende März nicht gepasst. Im Wahlkampf zur Neuwahl macht die AKP nun den Kurden Wahlgeschenke und behauptet, Imamoglu sei gar kein Türke - mit allen Mitteln will sie Imamoglu im Rathaus verhindern. Wer ist der Mann, dessen Sieg Erdogan so fürchtet und Anhängern als "Obama vom Bosporus" gilt?

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Der Kampf ums Rathaus in Istanbul läuft auf Hochtouren. Nicht zum ersten Mal in diesem Jahr: Eigentlich stand der Gewinner des wichtigsten Bürgermeisterpostens der Türkei schon am 31. März fest - mit knappem Vorsprung gewann damals der CHP-Politiker Ekrem Imamoglu. Bei Twitter bezeichnete der sich auch bereits als İstanbul Büyükşehir Belediye Başkanı - Oberbürgermeister von Istanbul.

Nicht damit einverstanden: Die AKP von Präsident Erdogan, die mit Kontrahent Binali Yildirim unterlag. Durch eine Beschwerde bei der Wahlbehörde bewirkte sie Neuwahlen - sie finden am 23. Juni statt.

AKP steht unter Druck

Nun steht die AKP enorm unter Druck: Schon die erste Wahlschlappe war ein Gesichtsverlust für Erdogan, in den aktuellen Umfragen liegt Imamoglu drei bis fünf Prozent vor Ex-Ministerpräsident Yildirim. In den 90er-Jahren war Erdogan selbst Bürgermeister von Istanbul - Wirtschaftszentrum und bis dahin seit über 25 Jahren in der Hand von islamisch-konservativen Parteien.

Hinzukommt: Auch weitere Großstädte wie die Hauptstadt Ankara, Izmir und Antalya gingen der AKP bei Kommunalwahlen verloren, außerdem schwächelt die Wirtschaft mit einer anhaltend hohen Inflation und es gibt Korruptionsvorwürfe.

Zünglein an der Waage: Stimmen der Kurden

Mit allen Mitteln versucht die AKP daher Imamoglu zu diskreditieren. Wahlgeschenke sollen die Gunst der Kurden bringen: Die Stimmen der größten ethnischen Minderheit in der Türkei könnten den Ausschlag geben.

Wie die "Taz" berichtet, machte die AKP im Zuge des Wahlkampfes einige Schritte auf die Kurden zu: Aufhebung der jahrelangen Kontaktsperre gegen den historischen Anführer der PKK, Abdullah Öcalan, auf, ein Besuch Yildirims in der kurdischen Metropole Diyarbakir und Einladungen der Kurdenführer nach Istanbul.

Schmutzkampagne als letztes Mittel

Das Buhlen um kurdische Stimmen ist für die AKP aber gefährlich, es könnte die Stimmen der rechten, nationalistischen Wähler kosten. Um jene zu bedienen, fährt die AKP eine Schmutzkampagne gegen Imamoglu: Er sei angeblich Grieche und damit nicht für das Amt geeignet.

Hintergrund: Imamoglu stammt aus der Provinz Trabzon an der Schwarzmeerküste, in der Antike herrschten dort Perser und Griechen. Im Osmanischen Reich wurden die Schwarzmeergriechen verfolgt und zwangsdeportiert.

Laut der "SZ" postete Imamoglu vor Jahren bei Facebook das Foto eines Treffens mit Nachfahren jener Schwarzmeergriechen, auf dem ausgelassen getanzt wurde. Ein griechischer Lokalpolitiker sagte daraufhin im TV "so furchtlos" wie Imamoglu sei, könne er nur "Grieche" sein.

"Istanbul, nicht Konstantinopel"

Das brachte AKP-Politiker Nurettin Canikli laut "ntv" zur Aussage: "Die Griechen sagen, dass Ekrem Imamoglu Grieche ist. Es gibt viele Fragen und Zweifel. Du solltest beweisen, dass dein Geist, dein Herz und deine Gedanken bei der türkischen Nation sind."

Erdogan legte nach, wie die "SZ" berichtet: Man sei in Istanbul, nicht in Konstantinopel. Diejenigen, die das anders sehen, müssten gestoppt werden. Zwar nannte der Präsident keine Namen, dass Imamoglu gemeint war, liegt aber auf der Hand. Wer aber ist der Mann, der Erdogan das Leben gerade so schwer macht?

"Obama vom Bosporus"?

Der 49-Jährige ist Politiker der "Cumhuriyet Halk Partisi" (CHP) - einst gegründet von Atatürk und größte Oppositionspartei in der Türkei. Die sozialdemokratische Partei stellt 139 von 600 Sitzen in der Nationalversammlung und ist älteste aktive Partei des Landes. Imamoglu gilt als ihre große Hoffnung, viele Medien kürten ihn bereits zum "Obama vom Bosporus" und zur "Symbolfigur des Wandels".

Dabei war Imamoglu vielen bis vor Kurzem gar nicht bekannt: Der dreifache Familienvater wurde 2014 zum Bürgermeister von Beylikdüzü - einem Landkreis der türkischen Provinz Istanbul - gewählt. Dort spielte er zwar eine aktive Rolle im sozialen und kulturellen Leben, Beylikdüzu hat aber nur 263.000 Einwohner - mit 15 Millionen Bürgern und damit einem Fünftel der Gesamtbevölkerung stellt Istanbul eine ganz andere Größenordnung dar.

Imamoglu hat BWL und Personalwesen in Istanbul studiert und im Familienunternehmen in dritter Generation gearbeitet. Er ist gläubiger Muslim und trat im Wahlkampf auch in Moscheen auf - eher untypisch für die säkulare CHP, aber ansprechend für konservative Wähler.

Bürgernah statt Prestige-Projekt

Parkprobleme lösen, Nachbarschaftszentren schaffen, Kindergärten bauen - Imamoglu setzt nicht auf große Prestige-Projekte, sondern auf Themen, die nah an den Bürgern sind. Auf seiner politischen To-Do-Liste stehen auch gesunde und günstige Lebensmittel für die Istanbuler, verbesserte Infrastruktur, Erdbebenschutz.

Der Mitte-Links-Politiker versucht die breite Masse anzusprechen: So will er Sozialleistungen erhöhen, aber auch Unternehmertum fördern, die Bedingungen für Studenten verbessern, die Stadtverwaltung digitalisieren, Paaren in Not Hochzeitsgeschenke machen und Bildungspakete für Familien schaffen.

Kontraste zur AKP Kampagne

Um mit diesen Themen zu punkten, setzt Imamoglu auf eine "Kultur der Kooperation und Solidarität", wirbt für Toleranz, Vielfalt und demokratische Partizipation - ein Kontrast zur aggressiven Kampagne der AKP.

Während jene ihre Konkurrenten als Terroristen bezeichnet, gibt sich Imamoglu betont volksnah und gelassen. Auf seiner Website schreibt er von Spaß am Fußball und Basketball und postet bei Twitter Videos in T-Shirt und Gespräche mit seinem Vater.

Hoffnungsträger für demokratischen Wandel

Auf Schlammschlachten lässt sich Imamoglu nicht ein, verkündet vielmehr: "Wir werden die heutigen Probleme mit wissenschaftlicher Vernunft angehen". Sein Slogan "Alles wird sehr gut" verbunden mit dem Ruf nach Transparenz und öffentlicher Rechenschaftspflicht ist frei von Schärfe.

Für Erdogan ist Imamoglu damit vor allem eine Gefahr. Im Wahlkampf hält sich der Präsident mittlerweile zurück, wohl um eine mögliche Niederlage alleinig auf Yildirim abzuwälzen. Für viele Türken ist Imamoglu hingegen vor allem Hoffnungsträger - für demokratischen Wandel im Land.

Verwendete Quellen:

  • Website von Ekrem Imamoglu
  • Webseite des türkischen Parlaments: "Sitzverteilung in der türkischen Nationalversammlung"
  • SZ: "Istanbul heißt Istanbul -Wieso Präsident Erdoğan einen Namensstreit auslöst."
  • NTV: Bürgermeisterwahlen in Istanbul - AKP versucht es mit Schmierkampagne
  • TAZ: Opposition liegt wieder vorne
  • Spiegel: Istanbuler Wahlsieger Imamoglu Der Mann, der Erdogan triezt
  • Spiegel: Neuer Bürgermeister in Istanbul: Oppositionskandidat Imamoglu zum Sieger erklärt
  • tagesschau.de: "Imamoglu - eine Bedrohung für Erdogans AKP"
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