- Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat den Verfassungsschutzbericht 2021 vorgestellt.
- Die SPD-Politikerin spricht von einer "steigenden Zahl von Extremisten in fast allen Bereichen".
- Im Bericht ist die Rede von 34.300 potenziellen Linksextremisten und 33.900 potenziellen Rechtsextremisten. Hinzu kommen die radikalen Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln ist eine große Behörde mit rund 4.100 Beschäftigten. Arbeit gibt es für sie aber offenbar mehr als genug: "Alle Abteilungen arbeiten unter Hochdruck", sagt Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang am Dienstagvormittag. "Selten war das Bundesamt in seiner Geschichte in einer solchen Intensität gefordert wie gegenwärtig."
Haldenwang stellt an diesem Tag zusammen mit Bundesinnenministerin
20.200 rechtsextremistische Straftaten
Nancy Faeser warnt vor einer steigenden Zahl an Extremisten in allen Bereichen. "Die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie ist weiterhin der Rechtsextremismus", sagt die Ministerin – eine Diagnose, der sich Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang anschließt. Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten sei zwar im Vergleich zum Vorjahr um 9,6 Prozent auf 20.200 zurückgegangen. Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten sei aber mit 13.500 "auf unverändert hohem Niveau", so Faeser.
Insgesamt stufen Innenministerium und Verfassungsschutz 33.300 Menschen als mögliche Rechtsextremisten ein. Die Szene habe nicht nur versucht, die Corona-Pandemie und die Flutkatastrophe 2021 für ihre Zwecke auszunutzen. Sie mache das auch jetzt wieder vor dem Hintergrund des russischen Kriegs in der Ukraine, sagt Faeser: "Rechtsextreme missbrauchen jede Krise für ihren Versuch, Menschen gegeneinander auszuspielen." Man gehe "mit Prävention und Härte" gegen die Szene vor. "Dazu gehört auch, dass wir Rechtsextremen konsequent die Waffen entziehen."
Linke Szene-Plattform als "gesichert extremistisch" eingestuft
Auf 34.300 Personen beziffern die Behörden die Zahl der möglichen Linksextremisten – also ein noch etwas höherer Wert als beim Rechtsextremismus. Die Zahl der linksextremistischen Straftaten ist wiederum mit 9.600 etwas niedriger - genau wie die Zahl der potenziell gewaltbereiten Extremisten mit 10.300. Schusswaffen würden in diesem Bereich ein geringeres Problem darstellen als bei Rechtsextremisten, sagt Haldenwang.
Das Gefahrenpotenzial sei aber auch beim Linksextremismus "unverändert hoch", betont Innenministerin Faeser. "Wir brauchen weiterhin ein sehr konsequentes und frühzeitiges Einschreiten." Der Verfassungsschutz-Präsident kündigt an, die Szene-Plattform Indymedia werde man künftig als "gesichert extremistische Organisation" einstufen. Dort werde mobilisiert für linksextremistische Aktivitäten und Straftaten.
Sehr leicht rückgängig ist dem Bericht zufolge die Zahl der potenziellen Islamisten in Deutschland. Sie fiel zwischen 2020 und 2021 von 28.715 auf 28.290. Die Szene sei vielfältiger und weniger sichtbar geworden, sagt Faeser. "Die geringere Sichtbarkeit verringert aber nicht ihr Gefährdungspotenzial." Die Sicherheitsbehörden sind nach ihrer Auffassung weiterhin sehr wachsam. So habe man im vergangenen Jahr etwa die Organisation "Ansaar International" und mehrere Hisbollah-Spendensammelvereine verboten.
Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen: ein neues, zusätzliches Phänomen?
Ein wachsendes Problem waren im vergangenen Jahr die zum Teil gewaltsamen Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Der Verfassungsschutz hat für diesen Extremismus vor einem Jahr eine neue Kategorie mit einem ziemlich sperrigen Namen geschaffen: Verfassungsschutzrelevante Delegetimierung des Staates. Es gehe dabei um Bedrohung von Politik und Wissenschaft, Gewalt- und Mordaufrufe, Antisemitismus, sagt Faeser. Eine klare Zuordnung zu den bisher gängigen Extremisten-Gruppen sei aber "in vielen Fällen schwierig". Verbindendes Element sei nur eine "diffuse Staatsfeindlichkeit".
Zahlen zur möglichen Größe dieser Gruppe nennt der Verfassungsschutzbericht nicht. Für Kritik sorgt auch diese neue Kategorie an sich: Schon bei der Vorstellung der Statistik politisch motivierter Kriminalität Anfang Mai kritisierte der "Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt": Das rechtsextreme Lagebild werde verwässert, wenn man Rassismus und Antisemitismus nicht klar dem Rechtsextremismus zuordne.
Auch Martina Renner, innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, forderte eine deutlichere Zuordnung der Querdenker-Proteste zum Rechtsextremismus: Schon bei den sogenannten Reichsbürgern habe der Verfassungsschutz auf "Entpolitisierung und Verharmlosung" gesetzt, kritisierte sie am Dienstag in einer Pressemitteilung. "Jetzt wiederholt man diesen Fehler."
Haldenwang betonte dagegen: Es sei "fatal", die militanten Corona-Leugner und Maßnahmen-Kritiker pauschal zum Beispiel dem Rechtsextremismus zuzuordnen. "Es ist nicht möglich, ohne Weiteres zu sagen, die Delegitimierer packen wir in die rechte Schublade." Dazu sei diese Gruppe regional zu unterschiedlich. In Ostdeutschland etwa geben nach Haldenwangs Einschätzung in der Tat Rechtsextreme den Ton unter den sogenannten Querdenkern an. In Süddeutschland seien dagegen viele Esoteriker vertreten, die mit völkischem Denken wenig zu tun hätten.
Kein pauschales Urteil über AfD-Mitglieder
Auch bei einem anderen Thema wird wohl erst der Verfassungsschutzbericht in einem Jahr mehr Klarheit bringen: Der Bundesverfassungsschutz führt die gesamte AfD inzwischen als extremistischen Verdachtsfall. Das Verwaltungsgericht Köln hatte diesen Schritt im Frühjahr bestätigt – ein Urteil, über das sich Thomas Haldenwang am Dienstag noch einmal ausdrücklich freute.
Die AfD wird aber erst im Bericht für das laufende Jahr eine Rolle spielen. Die Zahl von aktuell 33.300 potenziellen Rechtsextremisten wird dann aber nicht automatisch um die rund 30.000 Mitglieder steigen. Erstens hatte der Verfassungsschutz den extremen "Flügel" innerhalb der AfD schon zuvor beobachtet. Zweitens werde man nicht pauschal alle AfD-Mitglieder als potenzielle Extremisten zählen, so Haldenwang. Dazu sei die Partei noch zu sehr auf der Suche nach ihrem Kurs. "In einer Woche werden wir weitere Gelegenheit haben, die Entwicklung dieser Partei weiter unter die Lupe zu nehmen", sagt Haldenwang. Dann wählt die AfD einen neuen Parteivorstand.
Verwendete Quellen:
- Pressekonferenz in der Bundespressekonferenz
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2021
- Pressemitteilung Linksfraktion im Bundestag
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