Wer glaubt, die Bundestagswahl sei schon gelaufen, könnte sich irren. Die Geschichte der Bundesrepublik ist voll von überraschenden Wahlausgängen. Oft entschieden wenige tausend Stimmen über den Ausgang der Wahl. Wir erinnern an die größten Überraschungen am Wahlabend.

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Edmund Stoiber hatte bereits die Sektflaschen kalt stellen lassen, aber eine Ahnung hinderte ihn daran, sie zu öffnen. Die Prognosen um 18 Uhr sahen Schwarz-Gelb vor Rot-Grün, aber nur sehr knapp. Ein Sieg zwar, aber ein bitterer, denn noch wenige Monate zuvor hatten sich die Wähler in Umfragen mehrheitlich für einen Wechsel ausgesprochen.

Dann kam das historische Oder-Hochwasser im August 2002. Der rationale bayerische Ministerpräsident sah keinen Sinn darin, seinen Urlaub auf Sylt abzubrechen. Und unterschätzte den Instinktpolitiker Schröder.

Der gestiefelte Kanzler

Die Bilder des "gestiefelten Kanzlers" in den Krisenregionen brachte die Wende im Wahlkampf und ließ den Vorsprung der schwarz-gelben Opposition zusammenschmelzen. Doch Mehrheit ist Mehrheit. "Wir haben gewonnen!", verkündete Stoiber vor einer begeisterten Menschenmenge und ging wenig später als gefühlter Sieger in die Berliner Runde zur Wahl. Als er rauskam, hatte sich das Blatt gewendet.

Rot-Grün lag jetzt hauchdünn vorne. Gerhard Schröder blieb Kanzler - und Stoiber wollte nur noch eines: zurück nach München. Dorthin lud er den ehemaligen Konkurrenten Schröder dann Jahre später zur Brotzeit ein. Und Schröder kam. "Es war ein schönes Treffen. Wir sprachen vor allem über unsere Pläne und die Familie. Die großen politischen Debatten, die lassen wir jetzt andere führen", erinnerte er sich später.

Ein "in der Kandidatenfrage eindeutiges Ergebnis"

Die Erfahrungen von 2002 vor Augen zog Schröder 2005 in sein letztes Gefecht. Wieder hatte er scheinbar in letzter Minute das Blatt gewendet. Die 18-Uhr-Prognosen zeigten eine Sensation. Über Monate hatten die Umfragen das Ende der rot-grünen Regierungszeit prophezeit. Angela Merkels CDU lag bei über 40 Prozent, die SPD fiel seit dem Start der Agenda 2010 vor allem wegen der Hartz IV-Gesetze ins Bodenlose.

Die Presse überbot sich mit Nachrufen auf das rot-grüne Projekt, das Ergebnis der Wahl, es schien ausgemacht. Und dann das. Die erste Prognose zeigten CDU und Schröders SPD gleichauf bei etwa 35 Prozent. Merkel hatte in der letzten Woche vor der Wahl über fünf Prozent Zustimmung im Vergleich zu den Umfragen verloren. Ein "in der Kandidatenfrage eindeutiges Ergebnis" sei das, polterte der Kanzler im Siegesrausch und stellte fest "niemand außer mir ist in der Lage, eine stabile Regierung zu bilden". Vier Wochen später war Merkel als erste Frau in der Geschichte der Bundesrepublik Kanzlerin einer Großen Koalition. Wie im Duell Stoiber-Schröder hatte ein hauchdünner Vorsprung ihre Kanzlerschaft gesichert.

Projekt 18 ganz nah

Aber ein wirklicher Sieg war die Wahl 2005 für die Kanzlerin nicht, auf einen großen Wahlerfolg wartet sie bis heute. 2009 schnitt sie sogar noch ein bisschen schlechter ab als 2005. Und musste in der Berliner Elefantenrunde neidvoll mit ansehen, wie ihr Wunschpartner Guido Westerwelle seinen größten Triumph feierte. Auf 14,6 Prozent hatte es die Partei gebracht, von der man in den Monaten zuvor nicht immer sicher war, ob sie die Fünf-Prozent Hürde schaffen würde. Das einstige Projekt 18 des Jürgen Möllemann, es schien auf einmal zum Greifen nah.

Sogar vor der CSU landet Westerwelles FDP, der die politische Konkurrenz so beharrlich ein fehlendes soziales Gewissen vorgehalten hatte. "Sie haben jetzt die ganze Zeit behauptet, hier säße der personifizierte Teufel", ereiferte sich der oft gedemütigte Westerwelle gegenüber dem gescheiterten SPD-Kandidaten Frank Walter Steinmeier. Und: "Vielleicht sind wir gar nicht so schlimm, wie Sie immer behaupten."

Mit zehn Punkten zur Wiedervereinigung - und zu neuen Wählern

Überraschende Wendungen wie den Aufstieg Westerwelles hat es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder gegeben. Im Jahr 1989 erschien vielen politischen Beobachtern die christlich-liberale Koalition unter Führung des Pfälzers Helmut Kohl inhaltlich und personell erschöpft. Einer Kanzlerkandidatur des erfolgreichen und ungleich charismatischeren saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine im Jahr 1990 wurden dagegen durchaus Erfolgschancen eingeräumt.

Nur ein kurzer Augenblick in der Geschichte wäre Kohls Kanzlerschaft im Falle einer Abwahl gewesen. Lethargie lag über seiner Koalition - bis 1989 die Mauer fiel. In seinem Machtinstinkt Schröder nicht unähnlich griff Kohl zu. Während Konkurrent Lafontaine den DDR-Deutschen den Anspruch auf Sozialleistungen aberkennen wollte, stellte Kohl ein Zehn-Punkte-Programm zur Deutschen Einheit vor. Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl gewann er mit fast 37 Prozent der Stimmen - vor allem viele ehemalige DDR-Bürger wählten CDU.

Auch die Bundestagswahl 2013 (am Sonntag ab 16:00 Uhr bei uns im Liveticker) wird sich wohl erst am Wahlabend entscheiden. Sowohl Kanzlerin Merkel als auch Herausforderer Peer Steinbrück tun gut daran, sich nicht zu früh zu freuen - sonst könnte sie ein ähnliches Schicksal wie 1989 Lafontaine, 2002 Stoiber und Schröder drei Jahre später ereilen.

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