Mitten im Wahlkampf der Europawahl im Juni laufen Ermittlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) gegen die Präsidentin der Europäischen Kommission. Es geht um Korruption, Intransparenz und Interessenskonflikte im Zusammenhang mit den Verträgen über Corona-Impfstoffe. Anklage wurde noch nicht erhoben, doch der politische Schaden zeichnet sich bereits ab. Wie gefährlich kann von der Leyen das Pfizer-Gate werden?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Vorfälle liegen bereits mehrere Jahre zurück, doch die Pfizer-Gate-Affäre hängt Ursula von der Leyen immer noch nach: Parallel zu ihrer Kampagne für eine zweite Amtszeit nach der Europawahl, ermittelt die Europäische Staatsanwaltschaft gegen die Kommissionspräsidentin. Gegenstand ist ein Vertrag über 1,8 Milliarden Covid-19-Impfdosen, den die CDU-Politikerin mit dem CEO von Pfizer, Albert Bourla, ausgehandelt hatte.

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Worum geht es genau?

Die Vertragsverlängerung über die Lieferung von 1,8 Milliarden Impfdosen ist etwa 35 Milliarden Euro schwer. Das Brisante ist, dass sie zum Teil in Form von SMS-Nachrichten ausgehandelt worden sein soll – welche bis zum heutigen Tag nicht veröffentlicht wurden. Das Büro von von der Leyen ebenso wie die Kommission hatten auf Nachfrage behauptet, die Nachrichten seien nicht mehr auffindbar.

Auch eine Beschwerde durch die Europäische Bürgerbeauftragte, Emily O'Reilly, brachte keine Ergebnisse. Erstmals darüber berichtet hatte die "New York Times" im April 2021. Kritik erfuhren die Verträge auch, weil sie den Gesetzgebern erst nach Unterzeichnung des Abkommens mit weitreichend geschwärzten Teilen zugänglich gemacht wurden. Pfizer und die Kommission hatten das mit Verträglichkeitsklauseln begründet.

Wer klagt?

Die "New York Times" war es auch, die die Europäische Kommission Anfang 2023 beim Gerichtshof der EU verklagte, weil die SMS der Vorvertragsverhandlungen nicht veröffentlicht wurden. Das Verfahren läuft noch – Anklage erhoben hat die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) noch nicht.

Zwischenzeitlich drohte den Vertretern des Pharmariesen Pfizer sogar ein Zutrittsverbot zum Europäischen Parlament, weil der Konzern bei der Aufklärung über die Verträge nicht kooperiert hatte. Die Fraktionsvorsitzenden des Parlaments entschieden sich aber letzten Endes dagegen. Der belgische Lobbyist Frédéric Baldan reichte im vergangenen Jahr eine weitere Klage ein, diesmal allerdings vor dem EU-Gericht in Luxemburg.

Er beschuldigt von der Leyen der "Anmaßung von Ämtern und Titeln", der "Vernichtung öffentlicher Dokumente" und der "unrechtmäßigen Bereicherung und Korruption". Weitere Akteure, darunter auch Ungarn und Polen (unter der vorherigen PiS-Regierung) hatten sich seiner Klage angeschlossen.

Was sagt die EU-Kommission?

Die Europäische Kommission selbst streitet ab, dass von der Leyen eine Rolle bei den Verhandlungen zu den Impfstoffverträgen gespielt hat. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sagte im EU-Parlament: "Die Kommissionspräsidentin war an den Verhandlungen über den Covid-Impfstoffvertrag nicht beteiligt. Ich habe das schon einmal gesagt und werde es wiederholen."

Alle Verträge mit Pfizer oder anderen Herstellern – etwa AstraZeneca oder Moderna – hätten die vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren durchlaufen. Der Vertrag mit Pfizer, der in Zusammenarbeit mit dem deutschen Labor BioNTech geschlossen wurde, war der größte Liefervertrag in der Geschichte der EU.

"Es gab ein gemeinsames Verhandlungsteam und einen Lenkungsausschuss", so die Kommissarin. Die Mitgliedsstaaten hätten immer die Möglichkeit gehabt, einen Vertrag abzulehnen. Von der Leyen selbst äußert sich kaum zu den Vorwürfen. "Alles Notwendige dazu wurde gesagt und ausgetauscht. Und wir warten auf die Ergebnisse", wird sie von "Politico" zitiert.

Was droht?

Sollten die Klagen Erfolg haben, könnten die betroffenen Verträge ausgesetzt oder andere einstweilige Maßnahmen ergriffen werden. Lobbyist Baldan hatte außerdem gefordert, dass von der Leyen und alle Kommissionsmitglieder während der Ermittlungen vom Amt suspendiert werden – eine erfolgreiche Klage könnte sie gar das Amt kosten. Außerdem will er 100.000 Euro Schadensersatz für seinen Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen.

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Bei ihren Untersuchungen kann die EPPO, die Untersuchungen in ganz Europa zu Wirtschaftsverbrechen durchführt, theoretisch Telefone und anderes relevantes Material aus den Büros der Kommission oder in anderen Ländern in Europa beschlagnahmen.

Wie wahrscheinlich ist eine Verurteilung?

Noch ist der Ausgang des Verfahrens völlig unklar. Weder der Inhalt der geschwärzten Vertragsstellen noch die SMS sind bekannt. Verfahrenswidrig wäre es gewesen, wenn von der Leyen bewusst das Verfahren abgekürzt hätte und notwendige Stellen im Parlament dabei nicht eingebunden hätte. Dafür gibt es genaustens geregelte Vorgaben, Transparenzgebote und Mechanismen.

Zugute dürfte der Kommissionspräsidentin allerdings kommen, dass es sich mit der Pandemie um einen Ausnahmezustand handelte. Es bleibt die Frage im Raum: War von der Leyen mandatiert, einen solchen Vertrag abzuschließen, sofern sie es tat? Dabei könnten auch die deutlich höheren Konditionen eine Rolle spielen.

Wie groß ist der Schaden für von der Leyen?

Selbst, wenn festgestellt werden sollte, dass von der Leyen sich nicht illegal verhielt, dürfte sie dennoch einen Schaden davontragen. Bereits jetzt kritisieren politische Gegner sie stark. So sagte beispielsweise Fabio De Masi, EU-Kandidat des Bündnis Sahra Wagenknecht: "Frau von der Leyens Missachtung des Rechtsstaates und der Transparenzpflichten an der Spitze der EU-Kommission macht sie für eine weitere Amtszeit untragbar". Auch das Europäische Parlament wird bezichtigt, sich an Undurchsichtigkeit zu beteiligen, statt Transparenz zu schaffen.

Gleichzeitig wird von der Leyen bereits vom nächsten Skandal eingeholt: dem "Pieper-Gate". Dabei geht es um die Ernennung von Parteikollege Markus Pieper zum neuen Beauftragten für kleine und mittelgroße Unternehmen.

Von der Leyen machte nicht transparent, warum sie genau Pieper auf den lukrativen Posten setzte – während im monatelangen Auswahlverfahren andere Kandidaten besser abschnitten. Das EU-Parlament stimmte nun mehrheitlich gegen die Ernennung. Zwei Skandale auf einmal – das dürfte selbst eine krisenerprobte Frau wie von der Leyen nicht einfach wegstecken.

Verwendete Quellen

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