Nicht nur die CSU hat bei der Landtagswahl in Bayern dramatisch an Wählerstimmen verloren. Ein Debakel erlebte auch die SPD, die mehr als die Hälfte ihrer Wähler verloren hat. Was ist schiefgelaufen und welche Konsequenzen sind für die Demokratie und die SPD selbst zu befürchten? Der Historiker Thomas Schlemmer hat Antworten.
Herr Schlemmer, wie ist der dramatische Stimmenverlust der SPD in Bayern zu bewerten?
Thomas Schlemmer: Es gibt drei große Trends – einen langfristigen, ein mittelfristigen und einen kurzfristigen –, die zu dem schlechten Wahlergebnis der SPD in Bayern geführt haben.
Zum einen gibt es eine zunehmende Fragmentierung und Polarisierung im Parteiensystem, die schon seit Längerem den großen Parteien Stimmen kosten.
Der zweite Trend betrifft die Auseinandersetzung mit Sachthemen, bei denen andere Parteien wie die Grünen zeitgemäßere Antworten finden. Auch das hat die Sozialdemokraten in Bayern viele Wähler gekostet – vor allem junge in den großen Städten. Nicht umsonst sind die Grünen in München die stärkste Partei geworden.
Außerdem schaden der Partei die Auseinandersetzungen in der Parteiführung. So ist die bayerische SPD-Spitzenkandidatin
Zudem gab es generell eine große Unzufriedenheit der bayerischen Genossinnen und Genossen darüber, dass die SPD überhaupt in eine große Koalition eingegangen ist.
Wie lange kann die SPD so herbe Verluste noch hinnehmen?
Das Ergebnis hat mich schockiert. Immerhin ist die SPD eine der tragenden Säulen der Demokratie in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Wenn nun eine dieser Säulen wegbricht, kann das nicht ohne Folgen für das politische System bleiben.
Ein solches Wahlergebnis kann die SPD kein zweites Mal verkraften. Dann würde sie endgültig in die Bedeutungslosigkeit abstürzen.
"SPD in Teilen Bayerns nicht mehr präsent"
Es ist schon jetzt so, dass die SPD in Teilen Bayerns nicht mehr präsent ist. Es gibt ganze Landstriche, in denen die SPD noch nicht einmal sechs Prozent der Wählerstimmen holt. Dort gibt es keine Organisationen mehr, keinen politischen Diskurs, keine Rekrutierung von Mitgliedern.
Die Funktionen, die Parteien in einem demokratischen System haben, kann die SPD nur in eingeschränktem Maße ausführen, weil ihnen die kritische Masse fehlt.
Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Es gibt in der Fläche keine Mitglieder. Weil es keine Mitglieder gibt, kann sich kein Parteileben entfalten. Weil sich kein Parteileben entfalten kann, werden keine neuen Mitglieder geworben.
Wer keine Mitglieder wirbt, kann keine Wahlen gewinnen. Dieses Problem hat die SPD ja nicht erst seit gestern – sie hat es in Bayern seit den 1990er-Jahren. Und nun beschleunigt sich der Erosionsprozess offensichtlich.
Die SPD schafft es offensichtlich nicht mehr, ihre Kernwählerinnen und -wähler zu erreichen. Wieso nicht? Warum ziehen die Kernthemen wie sozialer Wohnungsbau und Kita-Gebühren nicht, auf die die SPD im Wahlkampf gesetzt hat?
Weil es die falschen Themen waren. Oder besser: Weil es vor allem Münchner Themen waren. Doch Bayern besteht nicht nur aus München. Die Eigentumsquote ist in Bayern viel höher als in anderen Ländern der Republik.
Doch auch in den urbanen Ballungsgebieten hat die SPD die Wahlen verloren. Denn die Themen rund um die soziale Gerechtigkeit hat auch eine andere Partei besetzt, die Grünen – und offenbar viel glaubwürdiger für das SPD-Klientel.
Die Grünen haben die sozialen Themen mit der Perspektive des ökologischen Umbaus der sozialen Marktwirtschaft unter dem Druck einer drohenden Katastrophe, nämlich des Klimawandels, verbunden. Diese doppelte Perspektive hat bei den Wählerinnen und Wählern besser gezogen als die klassischen sozialen Themen.
Das heißt, die Grünen haben auch Orientierung geboten …
Die Grünen haben eine Handlungsperspektive für die Zukunft geboten – eine, die übrigens jeden anhand seines eigenen ökologischen Fußabdrucks mit in die Verantwortung nimmt.
Sie nehmen die Menschen in die Verantwortung – und sie geben ihnen Verantwortung. Deshalb fühlen sich viele Wählerinnen und Wähler von den Grünen ernst genommen.
Was kann die SPD tun, um den Erosionsprozess aufzuhalten?
Die SPD neigt immer zur Nabelschau und zur Beschäftigung mit sich selbst. Die Sozialdemokraten waren gleich nach der Wahl die ersten, die Personaldebatten geführt haben.
"SPD neigt zur Komfortzone"
Der SPD wird jetzt nichts anderes übrig bleiben, als ihre Programmatik zu überprüfen, ihr Personal zu überdenken – allerdings in Ruhe und ohne Schuldzuweisung. Und sie muss von vorne anfangen. Sie muss versuchen, ihre Kernklientel zu erreichen. Und die alten Hochburgen müssen gestärkt werden.
Die SPD sollte auch dort hingehen, wo es wehtut. Sie neigt ja bekanntlich zur Komfortzone. Das heißt, sie geht lieber dorthin, wo noch Genossinnen und Genossen sind, um das eigene Unglück zu beweinen. Sie muss aber dorthin gehen, wo es dem politischen Gegner wehtut.
Was bedeutet die Entwicklung für die Bundes-SPD?
Noch näher als eine Bundestagswahl liegt momentan die Landtagswahl in Hessen. Auch dort sind herbe Verluste zu erwarten. Der Trend läuft schon gegen die Parteien, die die große Koalition tragen. Das ist kein Zufall, denn die große Koalition wollte keiner mehr.
Dass Jamaika gescheitert ist, war überraschend. Das hat die SPD in eine Position manövriert, wo sie nur zwischen zwei schlechten Optionen wählen konnte – einer ungeliebten Regierung mit einem Koalitionspartner, mit dem man kaum mehr etwas gemeinsam hat, und dem Vorwurf, sich einer staatspolitischen Verantwortung zu entziehen.
Dass das solche Folgen nach sich zieht, hat man nicht unbedingt absehen können. Allerdings waren die Abnutzungserscheinungen vorher schon sehr groß.
Die Entwicklung hat auch damit zu tun, dass Angela Merkel mit Horst Seehofer einen Akteur an eine zentrale Position gesetzt hat, der nur noch seinen eigenen Überzeugungen folgt.
Seehofer nimmt keine Rücksicht auf seine eigene politische Karriere, seine Partei und auf Angela Merkel und auf die SPD sowieso nicht. Das ist ein zusätzlicher Stressfaktor für alle Parteien, der sich zur Bayernwahl bemerkbar gemacht hat – und den man auch bei den hessischen Landtagswahlen wird beobachten können.
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