- Seit zehn Jahren regieren die Grünen in Rheinland-Pfalz mit.
- Ob die aktuelle Koalition zusammen mit SPD und FDP auch nach der Wahl am 14. März ihre Wunschoption ist, verrät die Grünen-Spitzenkandidatin Anne Spiegel nicht.
- Im Interview spricht die 40 Jahre alte rheinland-pfälzische Familien- und Umweltministerin aber über Kinder im Lockdown, die Konkurrenz im eigenen Lager und über den Hass, der Politikern und Wissenschaftlern zunehmend entgegenschlägt.
Frau
Anne Spiegel: Wir erleben einen harten politischen Wettbewerb – er wird nur über andere Wege und andere Medien ausgetragen. Jede Partei kämpft für ihre Inhalte und um die Gunst der Wählerinnen und Wähler, das hat sich auf jeden Fall nicht geändert.
Dennoch ist es nur ein "Wahlkampf light" ...
Es ist ein Wahlkampf, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Die klassischen Veranstaltungen sind derzeit unmöglich. Das ist sehr bedauerlich, denn ich vermisse es, unterwegs zu sein im Land, mit den Menschen zu sprechen und ihre Sorgen aufzunehmen. Das alles lässt sich nur zum Teil ins Digitale übertragen. Auch deshalb setzen wir nach wie vor unter anderem auf Flyer verteilen.
Ich war überrascht, als ich auf Ihrer Facebook-Seite sah, dass Sie auch klassischen Haustürwahlkampf gemacht haben. War das alles Corona-konform?
Ja, selbstverständlich, mit Abstand, mit Maske. Wir haben nur Flyer in Briefkästen gesteckt. Wir hatten eigentlich gar nicht vor, mit den Bewohnerinnen und Bewohnern direkt in Kontakt zu treten. Aber dann ging die Tür auf und ich wurde mit Namen angesprochen – da wollte ich mich jetzt auch nicht einfach zurückziehen. Der Drang der Menschen nach Infos und der Kontakt zur Politik in irgendeiner Form ist groß.
"Wir muten allen Kindern gerade sehr viel zu"
Wie erleben Sie als Mutter von vier kleineren Kindern den Lockdown?
Wir muten allen Kindern gerade sehr viel zu. Aber auch für mich persönlich als Mutter von vier Kindern ist der Alltag sehr anstrengend und extrem herausfordernd. Wir haben unsere Kinder – zwei Grundschul- und zwei Kita-Kinder – bewusst nicht in die Notbetreuung gegeben, weil wir wollten, dass dort die Kapazitäten für diejenigen frei bleiben, die sie unbedingt brauchen. Mein Mann ist Hausmann und betreut die Kinder zu Hause. Aber ich kenne keine Familie, die in der aktuellen Situation nicht gestresst ist. Und ich widerspreche allen, die behaupten, man könnte Homeschooling mal so nebenbei machen, während man selbst im Homeoffice ist.
Wo ruckelt es aus Ihrer Sicht besonders?
Wir müssen ganz dringend die Perspektive der Kinder stärker in den Blick nehmen, das sind eben keine kleinen Erwachsenen. Zugleich erlebe ich, dass die Digitalisierung im Bildungsbereich nur sehr schleppend vorangeht. Wir brauchen einen flächendeckenden Ausbau von Glasfaserverbindungen und schnelles Internet an allen Schulen. Zugleich darf es nicht vom Geldbeutel der Familien abhängen, ob ein Schulkind einen Computer zur Verfügung hat oder nicht. Analog zu Schulbüchern braucht es ein Ausleihsystem für Tablets und Laptops.
Niedersachsen hat bereits im Januar wieder schrittweise seine Schulen geöffnet, die meisten anderen Bundesländer haben damit am Montag begonnen, auch Rheinland-Pfalz. Kommt der Schritt zu früh oder war er längst überfällig?
Die Forderung der Grünen war immer: Wenn irgendwo etwas gelockert wird, dann bitte zuerst bei den Kindern, bei den Schulen und dort angefangen bei den Grundschulen. Dass wir zum jetzigen Zeitpunkt vorsichtig und schrittweise öffnen, halte ich für richtig, auch wenn wir natürlich das Mutationsgeschehen fortlaufend einschätzen müssen. Zugleich sollten wir den Druck für die Schülerinnen und Schüler rausnehmen. Nun gilt es nicht, Leistungsnachweise und Arbeiten durchzupeitschen, sondern Kinder zu unterstützen, die wegen des Lockdowns Lernrückstände haben. Parallel müssen die Auswirkungen der Lockerungen genauestens beobachtet werden: Die oberste Priorität muss weiterhin sein, zu schauen, dass unser Gesundheitssystem nicht in die Knie geht – auch mithilfe geeigneter Lüftungssysteme in den Klassenräumen und genügend und regelmäßigen Schnelltests.
Nervt es Sie, dass das Thema Corona im Wahlkampf alles andere überlagert?
Klar, es geht in den Gesprächen oft um Corona. Das verstehe ich, das Virus hat schließlich jeden gesellschaftlichen Bereich auf den Kopf gestellt. Aber es gibt nach wie vor erstaunlich viel Interesse am Thema Klimaschutz. Sei es das Hochwasser, was wir jetzt hatten, das Waldsterben oder auch ausbleibende Niederschläge und zu trockene Böden. Die Menschen merken, dass der Klimawandel auch in Rheinland-Pfalz angekommen ist – das treibt sie um.
"Mit dem Mord in Kandel begann der Hass"
Neben der Familien- und Umweltpolitik gehört auch das Ressort Integration zu Ihrem Aufgabenbereich. Sie bekommen zahllose Hass- und Drohmails, Sie stehen seit 2018 sogar unter Polizeischutz. Sind die Feindseligkeiten weniger geworden, seitdem das Thema Geflüchtete sowohl medial als auch gesellschaftlich nicht mehr ganz so präsent ist?
Mit dem Mord in Kandel begann der Hass. Das war auch der Grund, warum ich vor drei Jahren Personenschutz bekommen habe. Ich habe einen ganzen Ordner voll mit Morddrohungen gegen mich, gegen meine Kinder, gegen meinen Mann. Jetzt bekomme ich nicht mehr so viele Drohungen, aber es geht schon noch ständig weiter – das verlagert sich auch auf andere Themen, darunter eben auch Corona.
Wie setzen Sie sich gegen den Hass zur Wehr?
Ich kann jeder und jedem nur raten, wirklich alles zur Anzeige zu bringen. Ich selbst tue das auch, ich nehme das wahnsinnig ernst. Damit möchte ich zeigen, dass ich nichts durchgehen lasse. Hass und Hetze im Netz müssen mit der gleichen Härte und Konsequenz verfolgt werden wie im echten Leben.
Aber wie kann man dieses Problem lösen, das ja nicht nur ein persönliches und rechtliches, sondern vor allem auch ein gesamtgesellschaftliches ist?
Ja, absolut. Die meisten Menschen haben nicht den Schutz der Polizei wie ich. Darunter die vielen, vielen ehrenamtlich Engagierten in der Flüchtlingshilfe. Das ist ein Riesenproblem. Ich kenne einige, die ihre Arbeit eingestellt haben, weil sie zu viel Sorge hatten und sich bedroht fühlten. Ich glaube, wir müssen in der Gesellschaft insgesamt über das Thema Sprache debattieren. Wir sollten diskutieren, was es mit uns Menschen macht, wenn unsere Sprache so verroht. Mein Eindruck ist, dass in den vergangenen Jahren bei manchen – auch durch die sozialen Medien – alle Hemmungen gefallen sind. Es wird eine drastische Sprache gewählt, vulgär, mit Gewaltfantasien. Wenn Menschen persönlich diffamiert und entwertet oder sogar mit dem Tod bedroht werden, dann ist ganz klar eine rote Linie überschritten. Was viele nicht verstehen: Es sollen keine kritischen Stimmen ignoriert werden. Im Gegenteil: Ich selbst beantworte auch sehr, sehr kritische Schreiben. Es geht ja nicht darum, nur opportunistische Gefälligkeitspolitik zu machen.
"Ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf"
Stichwort kritische Stimmen: Einigen Klimaaktivisten und Wissenschaftlern gehen die Forderungen der Grünen nicht weit genug. Mit der Klimaliste RLP treten sie nun selbst bei der Wahl an und wildern damit im Grünen-Stammklientel. Wie ernst nehmen Sie die Liste als politische Konkurrenz?
Sie ist für uns ein politischer Mitbewerber wie alle anderen auch. Grundsätzlich freue ich mich immer über Verbündete, wenn es darum geht, Klimaschutz konsequent umzusetzen. Wir als Grüne sind aber sehr selbstbewusst. In unserem Wahlprogramm haben wir sehr genau formuliert, wie wir Rheinland-Pfalz in die Klimaneutralität bringen und die Pariser Klimaschutzziele einhalten können.
Sie bekümmert es also nicht, dass es den Grünen offenbar schwerfällt, kritische Stimmen von Fridays for Future mit ins eigene Boot zu holen?
Nein. Wir haben viele Fridays-for-Future-Aktivistinnen und -Aktivisten, die sich bei der Grünen Jugend oder den Grünen engagieren. Was Mitgliederzahlen angeht, sind wir in Rheinland-Pfalz auf einem Rekordhoch. Und, das freut mich besonders, es schließen sich wahnsinnig viele junge Menschen unserer Partei an – auch gerade wegen des Themas Klimaschutz.
Ihre Partei regiert in elf von 16 Bundesländern und womöglich bald auch im Bund. Werden radikale grüne Forderungen so nicht zwangsläufig in Regierungsverantwortung weich gewaschen?
Regierungshandeln heißt auch, immer wieder Kompromisse zu schließen. Das wird sich nicht ändern, es sei denn, man hat eine absolute Mehrheit und eine Partei kann alleine regieren. Wir wollen erneut Teil der nächsten rheinland-pfälzischen Landesregierung sein. Und dort die starke Stimme sein für konsequenten Klimaschutz, für eine echte Mobilitätswende und für mehr soziale Gerechtigkeit vor allem in der Bildungspolitik. Genau das ist unser Anspruch. Und ich glaube sehr wohl, dass man in der Regierung jede Menge bewegen kann in Sachen Klimaschutz, ohne Forderungen abzuschwächen.
Seit 2016 regiert eine Ampel-Koalition, ein Bündnis von SPD, FDP und Grünen, in Rheinland-Pfalz. Nun liegen SPD und CDU in den Umfragen annähernd gleichauf – wer wäre Ihr Wunsch-Regierungspartner?
Wir gehen bewusst ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf. Wir wollen uns nicht in irgendwelchen Debatten und Farbspielen verlieren, sondern uns auf die Inhalte fokussieren. Die Klimakrise ist eine gigantische Herausforderung, da ist noch jede Menge zu tun.
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