Manche Politikwissenschaftler halten es schon für ausgemacht, dass der Demokrat Joe Biden den amtierenden US-Präsidenten Donald Trump bezwingen wird. Was passieren könnte, falls Trump tatsächlich verliert, seine Niederlage aber nicht anerkennt, zeigt ein Experte anlässlich neuer Entwicklungen auf. Trumps Aussage, eine friedliche Übergabe der Macht nicht garantieren zu können, ist nur eine davon.

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Schon mit Beginn des Vorwahlkampfes – seit die USA also wieder über Wahlchancen, Beliebtheitswerte und den nächsten Präsidenten spekulieren – wird eine Frage stets gestellt: Was, wenn Trump eine Wahlniederlage nicht akzeptiert?

Politikwissenschaftler Dr. Martin Thunert vom "Heidelberg Center for American Studies" analysiert mögliche Szenarien - manche davon sind bedrohlich.

Amerikanische Verfassung unvorbereitet

Vorweg gilt: Nicht auf alle Szenarien wäre die amerikanische Verfassung vorbereitet. Trump hat aber mit neuen Aussagen für Wirbel gesorgt: Auf einer Pressekonferenz wollte er eine friedliche Übergabe der Macht nach der Wahl im November nicht garantieren. Gefragt, ob er bei "Sieg, Niederlage oder Unentschieden" bei der Wahl "hier und heute" eine friedliche Übergabe zusichere, hatte der US-Präsident geantwortet: "Wir müssen abwarten, was passiert." Auch seine jüngst während der ersten TV-Debatte getätigten Aussagen bezüglich eines Bereithaltens der militanten, rechtsextremen Gruppierung Proud Boys werfen viele Fragen auf.

Wieder einmal Getöse eines Präsidenten, der sich selbst selten beim Wort nimmt? Oder was steckt hinter der Aussage? "Er könnte beleidigt sein, dass ihm eine solche Frage überhaupt gestellt wird, die früheren Präsidenten, die zur Wiederwahl antraten, nicht gestellt wurde", schätzt Thunert. Trump könne aber seine Gegner – zu denen er auch die etablierte Presse zähle – mit zweideutigen Aussagen provozieren und empören wollen. "Er will – wie schon 2016 – gegenüber seinen Anhängern und möglichen Unentschlossenen absolute Siegesgewissheit ausstrahlen, Selbstzweifel haben noch niemals zum Repertoire des Menschen Donald J. Trump gehört", sagt Thunert.

Unterschiedliche Auffassungen von fairer Wahl

Doch der Präsident habe auch zurückgerudert: "Trump hat kurz danach über seine Pressesprecherin verlauten lassen, dass er das das Ergebnis einer ‚freien und fairen Wahl‘ respektieren werde", erinnert Thunert.

Genau das sei aber der Knackpunkt: "Seine Interpretation, was eine faire und freie Wahl ausmacht, deckt sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vollständig mit den Kriterien der Demokraten und großen Teilen der veröffentlichten Meinung", schätzt Thunert.

Trump baut für seine Argumentation vor

Insbesondere die Briefwahl sei betroffen. Schon jetzt baut Trump scheinbar dafür vor, eine auf die Briefwahlstimmen zurückgehende Niederlage nicht ohne juristische Überprüfungen anzuerkennen. So twitterte er: "Manipulierte Wahl 2020: Millionen von Stimmzetteln für die Briefwahl werden im Ausland und von anderen gedruckt werden. Das wird der Skandal unserer Zeiten!".

Seinen Tweet: "Es ist ausgeschlossen, dass Stimmabgaben per Brief irgendetwas anderes als wirklich betrügerisch sein werden" markierte Twitter mit einer Warnung für Leser – denn stichhaltige Beweise hat Trump bislang nicht vorgelegt.

Heftiger Kampf oder höchstrichterliche Entscheidung

Thunert hält es für wahrscheinlich, dass es nach Schließung der Wahllokale am 3. November 2020 unterschiedliche Auffassungen darüber geben wird, ob die Wahl und vor allem der Prozess des Stimmenauszählens frei und fair verlaufen sind.

"Im Vordergrund stehen werden Differenzen zwischen Vertretern der beiden großen Parteien, aber auch Differenzen zwischen Donald Trump und Teilen seiner eigenen Partei im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage, die primär auf die Briefwahlstimmen zurückzuführen ist", prognostiziert der Experte. Keine der beiden Seiten würde eine Niederlage ohne heftigen Kampf oder höchstrichterliche Entscheidung eingestehen wollen.

Wichtige Wochen nach dem 3. November

Besonders bedeutend hierfür: Die Wochen zwischen der Wahl am 3. November und dem Zusammentritt des Electoral College (Wahlkollegium) Mitte Dezember. In dieser Zeit werden die Briefwahlstimmen ausgezählt. "Bei knappen Wahlergebnissen in den umkämpften Swing States könnte sich das Ergebnis durch die Auszählung der Briefwahlstimmen im Vergleich zum Ergebnis, das am Wahlabend vorliegt, verändern. Höchstwahrscheinlich wäre dies dann eine Veränderung zu Ungunsten von Trump", sagt Experte Thunert. Denn laut Expertenschätzungen werden deutlich mehr potenzielle Biden-Wähler als Trump-Wähler per Brief abstimmen.

Heißt laut Thunert: Die Republikaner werden in den Stunden und Tagen nach der Wahl wohl alles versuchen, um die Briefwahlauszählung möglichst früh zu stoppen oder auf Unregelmäßigkeiten bei der Briefwahl hinweisen.

Tod von Ginsburg bringt neue Dynamik

Laut dem Experten könnte sich jedoch eine entscheidende Variable geändert haben: Am 18. September verstarb die Ruth Bader Ginsburg - linksliberale Richterin am Obersten Gerichtshof. Hier würde der Rechtsstreit zur Briefwahl landen. Wird Ginsburgs nominierte Nachfolgerin Amy Coney Barrett noch vor dem 3. November vom Senat bestätigt, wäre der Supreme Court mit sechs Richtern bestückt, die von Republikanern berufen wurden - und nur mit drei von Demokraten.

"Mit der neuen Richterin hätte die konservative Seite vermutlich selbst dann eine Mehrheit, wenn sich einer der als konservativ geltenden Richter anders als seine konservativen Kollegen entscheiden würde", zeigt Thunert auf.

Demokraten spielen Szenarien durch

Er sagt weiter: "Nur ein klarer Sieg Bidens aufgrund der Wahllokalstimmen in der Wahlnacht könnte eine solche Art von Szenario, das einer veritablen Verfassungskrise gleichkommt, meines Erachtens nach verhindern."

Dass die Machtübergabe problematisch verlaufen könnte, scheinen auch Demokraten zu ahnen: "Die Biden-Seite hat bereits im August 2020 in Kriegsspielmanier alle möglichen Szenarien einer nicht reibungslosen Machtübergabe einschließlich ihrer eigenen Optionen durchgespielt", sagt Thunert.

Horrorszenario weiterhin möglich

Ein weiteres mögliches Horrorszenario hatte Thunert schon im Juli beschrieben: Wenn Staaten, wo Landtag und Gouverneur von unterschiedlichen Parteien gestellt werden, gegenläufige Empfehlungen an das Wahlkollegium geben. Hier wählen die von den Staaten entsandten Wahlmänner und -frauen Präsident und Vizepräsident.

Denn dann sähe sich das Wahlkollegium außerstande, eine einheitliche Zertifizierung vorzunehmen und könnte dem neuen Kongress kein eindeutiges Ergebnis nennen. Der wiederum könnte nicht klar erkennen, wem die Wahlmännerstimmen eines Staates zugeteilt werden müssten – und sie unter Umständen einfach nicht zählen.

"Sollte dies bei einem knappen Wahlausgang in ein oder zwei Bundesstaaten geschehen ist es rechnerisch für die Kandidaten immer schwieriger, die absolute Mehrheit von 270 ‚Elektoren‘ zu erreichen", so Thunert. Dann ginge die Wahl des Präsidenten ins Repräsentantenhaus, die des Vizepräsidenten in den Senat.

Rechtsgelehrte wären sich uneins

Im Repräsentantenhaus würden die Abgeordneten nach Staatsdelegation abstimmen – wären die Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl mit 25 zu 25 verteilt, käme es zu einem Stillstand. Sollte sich auch der Senat nicht auf einen Vizepräsidenten einigen können, würde der Sprecher des Repräsentantenhauses vorläufig "Acting President".

Thunert aber warnt: "Wirklich vorbereitet ist das US-System auf ein solches Extremszenario nicht – dann gibt es keine klaren Spielregeln mehr und die Rechtsgelehrten sind sich uneins, was genau dann passieren wird."

Über den Experten:

Dr. Martin Thunert ist Politikwissenschaftler und Dozent am Heidelberg Center for American Studies (HCA) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er ist außerdem assoziiertes Mitglied des Zentrums für Nordamerikastudien (ZENAF) der Universität Frankfurt für Kanadastudien.
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