Am 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke aus nächster Nähe auf seiner Terrasse erschossen. Wäre die Tat zu verhindern gewesen und gab es im Vorfeld Ermittlungsfehler? So ist der Stand der Dinge.

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Am 2. Juni jährt sich der Todestag des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Er wurde auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Tatverdächtig ist Stephan E., gegen ihn wurde Anklage wegen Mordes erhoben.

Ermittlungen ergaben, dass der mutmaßliche Täter Verbindungen in die rechtsextreme Szene hat. Gemeinsam mit seinem Freund Markus H., dem Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird, habe er sich in den letzten Jahren radikalisiert. Er war bereits mehrmals auffällig geworden.

Wäre die Tat zu verhindern gewesen und gab es im Vorfeld Ermittlungsfehler?

Mord an Walter Lübcke: Tathergang und Hintergrund des Anschlags

Lübcke wurde mit einer Schusswunde am Kopf aufgefunden und verstarb an den schweren Kopfverletzungen. Zwei Wochen nach der Tat wurde Stephan E. festgenommen. Er legte zunächst ein Geständnis ab, widerrief dieses jedoch am 2. Juli 2019.

Ende April 2020 hat die Generalbundesstaatsanwaltschaft nunmehr Anklage gegen Stephan E. wegen Mordes und Markus H. wegen Beihilfe zum Mord erhoben. Beiden werden außerdem Verstöße gegen das Waffengesetz vorgeworfen.

Die Bundesanwaltschaft rechnet Stephan E. dem rechtsextremen Spektrum zu und stuft die Tat als "politisches Attentat mit rechtsextremem Hintergrund" ein.

Opfer setzte sich für Flüchtlinge ein

Walter Lübcke (CDU), Regierungspräsident im Regierungsbezirk Kassel, setzte sich für Flüchtlinge ein, was ihm Beleidigungen und Netzattacken von Rechten einbrachte.

Während einer Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel im Oktober 2015 verteidigte Lübcke den Plan, vor Ort eine Flüchtlingsunterkunft einzurichten. Im Verlauf seiner Rede fiel der Satz: "Wer diese (christlichen) Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er will." Bei der Versammlung waren auch E. und H. anwesend.

Dieses Zitat Lübckes verlinkte die frühere CDU-Politikerin und jetzige Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, Erika Steinbach, erstmals 2017 und erneut Anfang 2019 in den sozialen Netzwerken und kritisierte Lübcke für dessen Haltung in der Flüchtlingspolitik.

Nach der Ermordung Lübckes wurde ihr vorgeworfen, mit ihren Tweets Hass gegen Lübcke geschürt zu haben. Sie selbst bestreitet in einem Interview des ZDF eine Mitverantwortung für den Mord.

War Lübcke nicht das einzige Opfer?

In der von Lübcke befürworteten Flüchtlingsunterkunft lebte der 22 Jahre alte irakische Asylbewerber Ahmad E. Er wurde am 6. Januar 2016 nahe der Unterkunft von einem vorbeifahrenden Radfahrer mit einem Messer attackiert und am Rücken lebensgefährlich verletzt. Er erlitt bleibende Schäden.

Die Generalbundesanwaltschaft verdächtigt Stephan E., und klagt ihn in ihrer Anklageschrift zusätzlich wegen versuchten Mordes an.

Verbindungen zur AfD und zur rechtsextremen Szene

E. und H. haben gemeinsam immer wieder Demonstrationen des rechten politischen Spektrums besucht. Bereits 2009 nahmen sie an Aufmärschen von Neonazis in Dortmund und Dresden teil. 2016 spendete E. Geld an die AfD Thüringen.

Einer AfD-Demonstration in Chemnitz schlossen sich im September 2018 die rechte Gruppierung "Pro Chemnitz" sowie Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppe "Revolution Chemnitz" an. Der Schulterschluss der AfD mit den Rechten könnte für E. und H., die in Chemnitz mit dabei waren, als politische Legitimation oder zumindest Tolerierung terroristischer Handlungen verstanden worden sein.

Erst Geständnis, jetzt neue Version

Kurz nach der Tat hatte E. ein Geständnis abgelegt, das er später widerrief. Anfang Januar 2020 trug er eine neue Version vor. Es habe sich, so sein Anwalt Frank Hannig, um eine Art Unfall gehandelt, und der Schuss soll sich versehentlich gelöst haben.

Auch sei E. in Begleitung von H. am Tatort gewesen. Beide hätten Lübcke nur einschüchtern wollen. H. solle die Waffe in Händen gehalten haben, als sich der Schuss löste.

Dieser Version widerspricht, dass Ermittler eine DNA-Spur von E. an Lübckes Kleidung fanden, und dass E. in seinem ursprünglichen Geständnis konkretes Täterwissen hatte. Überzeugender ist die Aussage, dass H. eine größere Rolle gespielt haben könnte.

Auch H.s ehemalige Lebensgefährtin soll ihn für die treibende Kraft gehalten haben. Bei einer Hausdurchsuchung wurde bei H. außerdem ein Buch des rechten Autors Akif Pirinçci gefunden, in dem der Name Lübcke gelb markiert war.

Anklage der Generalbundesanwaltschaft

Hintergrund der Tat war laut Generalbundesanwaltschaft (GBA) Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Spätestens seit der Silvesternacht 2015/2016 in Köln und dem Attentat in Nizza im Juli 2016 habe E. den Entschluss gefasst, Lübcke wegen dessen Flüchtlingspolitik zu töten.

Er wollte, so führt die GBA weiter aus, ein "öffentlich beachtetes Fanal gegen die von ihm abgelehnte gegenwärtige staatliche Ordnung setzen".

E. besaß zum Zeitpunkt seiner Festnahme mehrere Schusswaffen sowie etwa 1.400 Stück Munition. H. wird vorgeworfen, den Waffenkauf vermittelt zu haben und E. zwischen 2016 und 2018 an Schusswaffen trainiert zu haben.

Gab es Ermittlungsfehler?

Jüngst wurde bekannt, dass Stephan E. mehr als zehnmal in einem NSU-Geheimbericht des Verfassungsschutzes genannt wurde. Bereits 1993 war er durch einen rechtsterroristischen Anschlagsversuch aufgefallen.

H. geriet im Juni 2006 im NSU-Mordfall Halit Y. ins Visier der Ermittlungen; er hatte die Fahndungsseite der Polizei im Internet gehäuft aufgerufen. In der Zeugenvernehmung erklärte er, dass er Halit Y. und einen Freund Y.s kenne. Es wurde nicht weiter verfolgt, obgleich bekannt war, dass H. der organisierten Neonazi-Szene angehörte.

Bei einer Pressekonferenz im Juni 2019 teilten Innenminister Horst Seehofer und Verfassungschef Thomas Haldenwang mit, dass E. nur bis 2009 als Neonazi in Erscheinung trat und dann vom Radar verschwunden sei. Doch E. war für die Behörden jederzeit greifbar. Hat der Verfassungsschutz versagt, indem er E. und H. nicht oder nicht ausreichend beobachtet hat?

In einem Interview sagte der Thüringer Verfassungsschutz-Präsident Stephan J. Kramer unlängst unserer Redaktion: "Es gibt genügend Punkte, bei denen die Sicherheitsbehörden hätten anders agieren können. Ich drücke mich mal sehr vorsichtig aus: Hier und da zeichnet sich ab, dass an verschiedenen Stellen Defizite bestanden haben, was kritisch aufgearbeitet werden muss. Gerade in der Gefahrenabwehr und der Sicherheit für gefährdete Objekte und Personen gibt es erheblichen Nachholbedarf. "

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Stephan J. Kramer, Thüringer Verfassungsschutz-Präsident
  • Pressemitteilung Generalbundesanwalt: Anklage wegen Mordes zum Nachteil des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke erhoben
  • EXIF Recherche & Analyse: Lübcke-Mord: Stephan E.und Markus H. auf AFD-Demo 2018
  • Süddeutsche Zeitung: Mord an Walter Lübcke: Zwei Täter, kein Mord
  • ZDF Nachrichten: Steinbach: Keine Verantwortung für andere
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