• Am 2. Dezember 1990 wählten die Deutschen zum ersten Mal den gesamtdeutschen Bundestag.
  • Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse erlebte den Aufbruch in die Einheit hautnah mit. "Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte Kohls Versprechungen glauben. Umso heftiger war die Enttäuschung später."
  • Im Interview spricht er über Streitfragen zwischen Ost und West, unterschiedliche Gewissheiten sowie über eine Ost-Quote und die Rolle der ostdeutschen Kanzlerin.
Ein Interview

Mit dem 2.Dezember 1990 liegt die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 30 Jahre zurück: Wie haben Sie den Aufbruch in die Einheit erlebt?

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Wolfgang Thierse: Mein Eintritt in das parlamentarische Leben der gesamtdeutschen Bundesrepublik fand bereits vorher statt: Denn ich war schon Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer in der DDR und dadurch mit dem Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober Mitglied des Deutschen Bundestages.

Die erste gemeinsame Wahl war trotzdem auch für mich besonders spannend. Gleichzeitig war sie aber auch mit einem schlechten Ergebnis der SPD, dem Sieg von Helmut Kohl und dem Einzug der PDS in den Bundestag verbunden.

Was waren für Sie die größten Unterschiede in der parlamentarischen Arbeit zwischen Volkskammer und gesamtdeutschem Bundestag?

Man erkannte die Unterschiede vor allem an der Sprache, dem Erfahrungsvorsprung der westdeutschen Politiker und dem Vorsprung an Selbstdarstellungs- und rhetorischen Künsten. Da musste man sich einarbeiten, behaupten und Kampfeslust entwickeln.

Die erste gesamtdeutsche Wahl stand ganz im Zeichen der Wiedervereinigung vom 3. Oktober. Welche Fragen hatten im damaligen Wahlkampf und an der Wahlurne Gewicht?

Kohls Wunder-Versprechen, die Einheit würde schnell ihre positive Wirkung entfalten, blühende Landschaften würden entstehen, haben alles überstrahlt. Damit hat Kohl vor allem die Wahl in Ostdeutschland gewonnen. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte seinen Versprechungen glauben. Umso heftiger war die Enttäuschung später.

Die alten und neuen Bundesländer bildeten jeweils ein Wahlgebiet mit separat zu berechnenden Sperrklauseln. Das sicherte dem Bündnis 90/Grüne mit einem Ost-Wahlergebnis von 6 Prozent und einem Ergebnis von 4,8 Prozent im Westen ebenso wie der PDS (Ost:11,1 Prozent, West:0,3 Prozent) den Einzug ins Parlament. Die Grünen waren die einzige relevante Partei, die sich damals nicht mit ihrem ostdeutschen Gegenüber vereint hatte. Wie groß ist der Riss heute noch, der durch die Parteien geht?

Zunächst: Dass wir durch ein Verfassungsgerichtsurteil zwar staatlich vereinigt waren, es aber zwei getrennte Wahlgebiete gab, hat mich damals sehr befremdet. Diesem Urteil verdankt die Linkspartei, die sich damals nicht mit einem westdeutschen Teil vereinen konnte, ihren Einzug in den Bundestag. Es hat ihr Überleben gesichert.

Inzwischen spielen Ost-West-Gegensätze in den Parteien und im Bundestag nur noch eine geringe Rolle, aber in der Bevölkerung sind soziale, ökonomische, kulturelle und mentale Unterschiede wahrnehmbar. Das ist nach vier Jahrzehnten getrennter Entwicklung zuvor, nicht verwunderlich. Nicht alles geht in der Geschichte schnell.

Vor 30 Jahren war die Finanzierung der Vereinigung eine der großen Streitfragen, welche gibt es heute?

Heute geht es darum, dass es einen Unterschied zwischen Ost und West in Sachen Gewissheiten und Sicherheiten gibt. Die Ostdeutschen haben so viel dramatische Veränderung erfahren, dass ihr Grundgefühl von Sicherheit deutlich geringer ist.

Das spielt bei den jetzigen Entwicklungen, denen Gesamtdeutschland ausgesetzt ist, eine Rolle: Globalisierung, Digitalisierung, Pluralisierung der Gesellschaft, ökologische Herausforderung und die Pandemiekrise. Das erklärt zum Teil auch die unterschiedlichen Zustimmungswerte der Parteien im Osten und Westen.

Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur oder beim Militär werden von Ostdeutschen besetzt. Welchen Grund sehen Sie für den Mangel?

Das hat zunächst einen historischen Grund: Keine Revolution kommt ohne Personalwechsel aus. Die Ostdeutschen wollten die kommunistischen "Eliten" loswerden. In die Führungspositionen sind viele Westdeutsche eingerückt.

Das war in den 90er Jahren unausweichlich nötig. Nach dieser ersten Phase hat die mittlere und jüngere Generation der Ostdeutschen aber nicht dieselbe Chance bekommen, in die Führungspositionen nachzurücken. Das muss sich ändern.

Wie? Braucht es dazu eine Ost-Quote?

Nein, aber es muss eine selbstverständliche Aufmerksamkeit gelten: Ostdeutsche müssen bei gleicher Qualifikation eine gleich faire Chance bekommen – in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Medien und der staatlichen Verwaltung.

In den Bundesministerien gibt es kaum Abteilungsleiter aus Ostdeutschland. Gerade mal 4 von insgesamt 133 Posten waren Ende August mit Beamten besetzt, die in einem der neuen Länder geboren sind, im Bundeskanzleramt gab es keinen einzigen ostdeutschen Topbeamten. Wie gelingt denn der Wandel: Müssen Ostdeutsche mehr einfordern oder der Westen mehr gewähren?

Beides. Ostdeutsche müssen selbstbewusster und fordernder sein. Westdeutsche müssen begreifen, dass es nicht nur nach ihrer Personalkette und ihren Netzwerken gehen darf. Sie müssen den Nachholbedarf der Ostdeutschen anerkennen und Fairness walten lassen.

Geht es denn noch darum, den Westen im Osten nachzubauen?

Nein, die Nachahmungsphase Ost nach West ist vorbei. Sie war in den 90er-Jahren unvermeidlich. Wir haben die Planwirtschaft verabschiedet und die Marktwirtschaft übernommen. Wir haben den Demokratie- und Rechtsstaat übernommen – all das, was im Westen schon der Fall war, musste erst gelernt und ins Ostdeutsche übersetzt werden.

Die Ostdeutschen sollten begreifen, dass sie eine große menschliche, politische, soziale und ökonomische Leistung vollbracht und eine dramatische Transformation bestanden haben – unter Schmerzen, mit vielen Opfern, aber doch am Schluss ziemlich erfolgreich. Das ist Anlass für Selbstbewusstsein und selbstverständliche Einmischung in die gesamtdeutschen Belange und nicht für Jammern und Klagen.

Was passiert, wenn Merkel als DIE Ostdeutsche in der Position der Kanzlerin weg ist?

Viele Ostdeutsche haben Merkel gar nicht mehr als ihresgleichen angesehen. Um in die Führung der CDU zu kommen, einer dominant westdeutschen Partei, hat Merkel ihre ostdeutsche Herkunft und Prägung eher verleugnet als herausgestellt. Das haben viele Ostdeutsche nicht vergessen.

In der Politik hatten die Ostdeutschen – im Unterschied zu Kultur, Medien und Wissenschaft – dennoch immer die Möglichkeit gehabt, ihresgleichen zu wählen. Es gab mit mir, Merkel und Gauck Ostdeutsche in den führenden Verfassungsämtern. Da wo die Ostdeutschen direkt gewählt haben, haben sie aber zum Beispiel Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel ihre Stimme gegeben. Manche ostdeutsche Klage erscheint mir heuchlerisch.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war zu lesen, dass Wolfgang Thierse in der DDR geboren wurde. Richtig ist, dass Thierse in Breslau geboren wurde. Wir haben den Fehler korrigiert.

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