Nicht wenige Experten hatten dem 1. FC Heidenheim einen krachenden Absturz prophezeit. Nun legt der notorische Underdog aber einen Raketenstart hin und erstaunt schon wieder die Liga. Wird in Heidenheim besser gearbeitet als an anderen Standorten – oder einfach "nur" schlauer?

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Natürlich blieb Frank Schmidt unerbittlich, was auch sonst? Der 1. FC Heidenheim hatte am sehr späten Donnerstagabend gerade erst den Einzug in die Conference League geschafft, als der Trainer am SWR-Mikrofon gefragt wurde, ob er und seine Mannschaft sich denn nun auf die wenige Stunden später anstehende Auslosung freuen würden – und wie sie diese im gemeinsamen Kreis verfolgen würden.

In der Stunde des großen Erfolgs sind Verantwortliche auch mal generös, der eine oder andere Trainer hätte für die Auslosung am Freitagnachmittag die Spieler bei Kaffee und Kuchen zusammengeholt: Entspannt vor dem Fernseher sitzen, sich über die kommenden Gegner freuen, die Reiserouten besprechen, einfach auch mal ein bisschen Dampf rausnehmen.

Training während der Europapokal-Auslosung

Schmidt aber hatte eine andere Idee: Er ließ seine Mannschaft zum Zeitpunkt der Auslosung trainieren. Die Einheit war schon lange angesetzt, warum also sollte der Trainer nun von seinem Plan abweichen wegen einer Europapokal-Auslosung? "Die Vorbereitung auf das Spiel gegen Augsburg ist wichtiger, die Auslosung hat auch nach dem Training noch Bestand. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht einmal, wer dabei ist", sagte Schmidt.

Die Priorität war also einmal mehr klar gesetzt in Heidenheim. So wie das schon seit bald 20 Jahren eben so ist – nur mittlerweile auf einem ganz anderen Niveau.

Europapokal statt Kreisliga B

Der 1. FC Heidenheim bleibt für viele Beobachter auch zu Beginn seiner zweiten Saison in der Bundesliga ein Phänomen. Weil auf der Ostalb die Uhren immer noch etwas anders ticken, weil sie hier keine verrückten Dinge tun und eigentlich nur das, was die größte Aussicht auf Erfolg bietet. Das ist ebenso unaufgeregt wie unspektakulär – und damit im massiv überdrehten Profi-Fußball in Deutschland fast schon wieder einzigartig.

Ein paar Momente vor Schmidt durfte sich Holger Sanwald am Donnerstag nach dem Einzug in den Europapokal äußern, der Klub-Boss konnte seine Emotionen etwas weniger im Zaum halten als sein Trainer.

Er könne sich nur zu gut erinnern an "die Staffeleinteilung in der Kreisliga B mit unserer zweiten Mannschaft in Burgberg", einem Dörfchen ein paar Kilometer von Heidenheim entfernt. Und jetzt: Die Uefa, das mondäne Monaco. "Bei der Auslosung in Monaco dabei zu sein, ist unvorstellbar. Ich bin unheimlich stolz. Das ist etwas ganz Großes für unseren Verein!" Er werde dafür extra den feinen Zwirn rauslegen.

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Keine wilden Transfer-Aktionen am Deadline Day

Sanwald konnte sich auch deshalb ganz entspannt auf den Weg ins Fürstentum machen, weil er seine Arbeit davor (fast) schon komplett erledigt hatte. Am sogenannten Deadline Day wird bei sehr vielen Klub noch eifrig gewerkelt, auf den letzten Drücker noch Transfers eingefädelt, Spieler zugekauft oder abgegeben, weil noch Lücken im Kader sind oder diese viel zu aufgebläht sind.

In Heidenheim waren sie damit schon seit Wochen fertig. Also fast: Weil sich die Gelegenheit ergab, den verlorenen Sohn Niklas Dorsch vom FC Augsburg zurück nach Heidenheim zu holen, griff Sanwald vermutlich doch noch ein paar Mal selbst zum Telefon, um den Transfer festzuzurren – wohl kaum zufällig ein paar Stunden nach dem Einzug ins internationale Geschäft und damit der Gewissheit auf mindestens vier Millionen Euro zusätzlicher Einnahmen.

Heidenheims klare Transferstrategie

99 Prozent der Arbeit war da aber längst schon erledigt. Seit dem Start in die Vorbereitung steht der Heidenheimer Kader, die sieben Abgänge wurden durch acht Zugänge kompensiert. Auf dem Papier ein Nullsummenspiel, in der Realität aber eine Gratwanderung für die Macher Schmidt und Sanwald: Nahezu die komplette erste Offensivreihe hat Heidenheim in diesem Sommer verlassen, Tim Kleindienst nach Gladbach, Jan-Niklas Beste nach Lissabon und Eren Dinkci zum SC Freiburg.

Das Trio erzielte in der abgelaufenen Saison 36 der 50 Heidenheimer Tore in der Bundesliga, also mehr als zwei Drittel aller Treffer. Einen derart schmerzhaften Exodus an fußballerischer Qualität hatte keine andere Mannschaft der Liga zu verkraften. Aber statt zu jammern und sich selbst zu bemitleiden haben sie in Heidenheim einfach weitergemacht: Streng nach Plan, so wie in den letzten Jahren auch.

Anlaufstelle vor allem für junge Spieler

Schon im Frühjahr wurden die ersten Zugänge präsentiert, ganz nach Heidenheimer Tradition zumeist aus der zweiten oder dritten Liga, die zwar den deutschen Fußball kennen, aber keine Sprachbarriere. Und die bei ihren abgebenden Klubs oft genug keine Perspektive mehr haben.

Diese Idee verfolgen sie in Heidenheim auch weiterhin, wobei sich in den letzten beiden Jahren auch ein bisschen was verändert hat: Junge deutsche Spieler sehen den vermeintlichen Underdog mit seinem ruhigen Umfeld und dem fordernden und fördernden Trainer als sehr guten Zwischenschritt für ihre Karriere an.

Win-Win-Situation mit Paul Wanner

Unter anderem deshalb haben sich Luca Kerber (1. FC Saarbrücken), Julian Niehues (1. FC Kaiserslautern) oder Maximilian Breunig (SC Freiburg II) für Heidenheim entschieden. Und natürlich Paul Wanner. Der erst 18-Jährige steht beim FC Bayern unter Vertrag, kam nach einer Leih-Saison bei der SV Elversberg in der 2. Liga nun nach Heidenheim. Wanner stammt aus Ravensburg, also quasi aus der Gegend.

Sanwald empfand den Wechsel Wanners zum vergleichsweise kleinen Standort nach Elversberg bemerkenswert und sah durchaus Parallelen und vor allen Dingen einen Spieler, der sehr durchdacht einen Schritt nach dem anderen im Profigeschäft gehen will. Der nicht zu gierig ist, es auf Anhieb bei einem größeren Bundesligaklub versuchen zu wollen oder sogar bei den Bayern – um dann auf der Bank oder auf der Tribüne oder in der Regionalligamannschaft zu versauern.

Die Aussicht auf Bundesligafußball, auf viel Einsatzzeit, einen Trainer, der auf junge, hungrige Spieler setzt und auch die Chance auf internationalen Fußball plus der Nähe zum Elternhaus hat Wanner offenbar relativ schnell überzeugt. Und bereits nach wenigen Wochen der gemeinsamen Zusammenarbeit deutet sich an, dass das für beide Seiten – mal wieder – die goldrichtige Entscheidung war.

Im Heidenheimer Kollektiv bestimmt der Teenager die Schlagzeilen. Das dürfte den Verantwortlichen nicht so recht sein, lässt sich nach sechs Scorerpunkten (vier Tore, zwei Vorlagen) aus den ersten vier Pflichtspielen aber kaum noch vermeiden. Die halbe Bundesliga und etliche ausländische Top-Klubs sollen hinter Wanner her gewesen sein. Dass sich der wohl beste deutsche Nachwuchsspieler des 2005er-Jahrgangs aber trotzdem für Heidenheim entschieden hat, ist für den Klub auch ein starkes Signal nach außen.

Erst der Plan, dann das Geld

Noch sind erst zwei Spieltage in der Bundesliga absolviert, die Tabelle kaum aussagekräftig. Dass Heidenheim aber trotz des veritablen Umbruchs im Kader und der Dreifachbelastung mit Liga, Pokal und Europapokal derart fulminant startet, ist zumindest bemerkenswert. Trainer Schmidt hat es tatsächlich geschafft, den eng getakteten Spielplan für seine Zwecke zu interpretieren: als Teambuildingmaßnahme auf Wettbewerbsniveau.

Durch die vielen Spiele gleich zu Beginn bekommen viele Spieler Einsatzzeiten, fühlen sich integriert und wichtig. Und die Neuen funktionieren quasi auf Knopfdruck: Neben Wanner unter anderem auch Kreativspieler Leo Scienza, für lächerliche 600.000 Euro aus der direkten Nachbarschaft vom SSV Ulm geholt. Noch so ein typischer Heidenheim-Transfer.

Die Spieler wachsen kontinuierlich mit dem Klub

Die sechs Tore in der Liga, die zu sechs Punkten und der Tabellenführung nach zwei Spieltagen führten, verteilen sich auf Wanner (zwei), Scienza, Breunig, Adrian Beck und Jan Schöppner. Bis auf Wanner, der als 16-Jähriger beim FC Bayern schon ein bisschen Bundesligaluft schnuppern durfte, allesamt Spieler, die Heidenheim in der dritten oder vierten Liga ausgegraben hat und die jetzt kontinuierlich mit dem Klub wachsen.

Auch in Heidenheim wird gutes Geld bezahlt, mehr als Mittel zum Zweck ist das auf der Ostalb aber nicht. Zuerst kommt diese spezielle Mischung aus guten Ideen und viel Fleiß plus einer gewissen Bauernschläue, erst dann der penibel kalkulierte Einsatz der Ressourcen. Eigentlich ein einfaches Rezept. Nur: So gut wie der 1. FC Heidenheim setzt das in der Bundesliga niemand um.

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