Die Ultras sind zurück in den Stadien der Republik - und mit ihnen auch der Einsatz von Fackeln und Bengalos. Fan-Forscher Jonas Gabler klärt auf über die Faszination der Farben, verhärtete Fronten und was die Weltmeisterschaft 2006 damit zu tun hat.
Herr Gabler, was macht die Faszination an Pyrotechnik aus und woher kommt die Idee?
Jonas Gabler: Geschichtlich betrachtet stammt die Idee aus der Ultra-Kultur in Italien und hat sich dort in den 1970er und 80er Jahren flächendeckend verbreitet - in Verbindung mit anderen Stilmitteln wie Choreographien, Fahnen, Doppelhaltern, koordinierten Gesängen.
Ist das Abbrennen eher Selbstverwirklichung oder Provokation der Fans?
Gabler: Nach dem Scheitern der Gespräche zwischen Fans und DFB, ob ein legales Abbrennen möglich sei, wurde Pyrotechnik immer stärker zu einem Protestsymbol und einem Symbol des Widerstands: "Ihr kriegt uns nicht klein, wir bleiben anders!" Aktuell, nach zwei Jahren Pandemie, ist der Einsatz von Pyrotechnik nach meinem Dafürhalten aber eher ein Ausdruck der Fan-Kultur, der eigenen Gruppe, wie sie sich selbst feiert und die Freude über die Rückkehr in die Stadien. Jetzt ist allen wieder klar: Die Ultras sind wieder da, mit ihren Gesängen, ihrer Stimmung, den Choreographien und eben auch der Pyrotechnik. Und es ist mehr als ein Stilmittel: Vereinzeltes Zünden - und nicht unbedingt die geplanten, großen Pyro-Choreographien - führt aus meiner Sicht durchaus auch dazu, dass die Kurve nochmal einen kleinen Kick bekommt, noch einmal ein paar Prozent mehr gibt beim Anfeuern.
Ist der Einsatz von Pyrotechnik eine Sache der gesamten Kurve oder eher ein klassisches Ultra-Ding?
Gabler: Es ist größtenteils ein Ultra-Ding. Es gibt auch vereinzelte Fans, die eine Fackel zünden. Das ist aber eher die Ausnahme.
Wie würden Sie die Akzeptanz von Pyrotechnik einschätzen?
Gabler: In der breiten Bevölkerung erfährt Pyrotechnik eine breite Ablehnung. Bei fußballinteressierten Menschen wird es dann schon weniger, im Stadion nimmt das dann nochmal ab und in der Kurve selbst gibt es dann zumindest kaum noch einen Gegenpol. Nicht jeder findet das gut und es gibt auch unterschiedliche Produkte. Aber Konsens ist: Es wird in der Kurve mindestens geduldet, obwohl es ein breites Spektrum an Positionen gibt.
Ganz praktisch gefragt: Kann das Risiko beim Abbrennen minimiert werden?
Gabler: Es gibt Unterschiede im Gebrauch. So kann Pyrotechnik so gezündet werden, dass in der Regel niemand zu Schaden kommt, nämlich wenn die Fackeln bis zum Abbrennen in der Hand gehalten werden. Wenn aber Fackeln, Bengalos oder Böller geworfen und Raketen geschossen werden, wird es unkontrollierbarer. Dem stehen Fans dann kritischer gegenüber. Das sind dann Debatten, die auch in der Ultra-Szene kontrovers geführt werden.
Die Fronten zwischen den Behörden, den Verbänden, den Klubs und auf der Gegenseite den Fan sind schon lange verhärtet. Gab es ein Ereignis, das diese Kluft hervorgerufen hat?
Gabler: Es gab dabei nicht dieses eine, sehr konkrete negative Ereignis, das zu diesem Umdenken der Behörden geführt hätte. Sondern es war vielmehr ein schleichender Prozess. Zum einen breitete sich der Einsatz von Pyrotechnik durch die Fans in den Stadien in den frühen 2000er Jahren immer weiter aus. Zum anderen spielte auch die Architektur der Stadien eine Rolle: Die waren – u.a. im Zuge der Um- und Neubauten für die WM 2006 – jetzt mehr überdacht als früher oder sogar wie auf Schalke komplett überdacht. Der Rauch konnte nicht mehr so schnell entweichen wie in den "alten" Stadien früher, Nebelschwaden beeinträchtigten immer öfter den Spielbetrieb. Das war kontraproduktiv zum Vorhaben, die Gemengelage kurz vor der Weltmeisterschaft im eigenen Land zu befrieden und familienfreundlicher zu machen.
Wollte die Politik speziell im Vorfeld der WM 2006 ein "glatteres" Fußballerlebnis?
Gabler: Bei so einem Großereignis schauen nicht nur die Fußball-Fans drauf, sondern auch die Politik. Es spielte mit Sicherheit auch eine Rolle, dabei ein sauberes Image abzugeben und gewissermaßen so "clean" wie möglich sein zu wollen. Es sollten keine Bilder entstehen, die Unsicherheit oder Kontrollverlust suggerierten. Das ließ sich übrigens auch sehr gut an den Polizeieinsätzen dokumentieren: Mit der Vergabe der WM an Deutschland gingen die Einsatzzahlen deutlich nach oben.
Mittlerweile wird der Einsatz von Pyrotechnik kriminalisiert...
Gabler: Im Laufe der Jahre wurde Pyrotechnik in den Stadien dann immer großflächiger und schärfer sanktioniert: Von der Polizei, den Vereinen und Verbänden. Und es hat sich dann auch das Framing in den Medien verändert. Aus südländischer Begeisterung wurde eine Gefährdung. In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre hat sich die Debatte dann immer weiter zugespitzt. Gesprächsrunden wurden vereinbart und zunächst auch noch geführt, dann aber relativ abrupt - auch auf Drängen der deutschen Innenpolitik und der Polizeibehörden - abgebrochen.
Wie sehen die Sanktionen denn aus?
Gabler: Neben der Verfolgung durch die Behörden, die – je nach Fall – Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren nach sich ziehen, gibt es noch die Verbandsstrafen gegen die Vereine. Diese fallen unterschiedlich hoch aus. In der Bundesliga höher als in der 3. Liga. Zudem: Wenn das erste Mal gezündelt wird, ist es etwas anderes als wäre es schon zum zehnten oder 15. Mal der Fall. Zugleich sind die Vereine angehalten, die Täterinnen und Täter in Regress zu nehmen. Der durch die Geldstrafe entstandene Schaden, der vom zündenden Fan zurückgeholt werden soll, bemisst sich also nicht an der handelnden Person, sondern am Kontext. Ein Eintracht-Frankfurt-Fan, der exakt die selbe Sache begangen hat wie einer vom SC Verl, wird eine ganz andere Summe bezahlen müssen. Und das widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden der Fans. Die Strafzahlungen der Vereine gehen bis in den sechsstelligen Bereich, auf Privatpersonen kommen - je nachdem, was der Verein sich quasi zurückholen will - auch Summen im niedrigen fünfstelligen Bereich zu. Rechtlich betrachtet ist das ein Schadenersatz, wenn ein Klub an den oder die Täterinnen und Täter Regressansprüche stellt. Für die Fans fühlt es sich aber an wie eine Sanktion.
Wie sehen Sie die Rolle der Medien?
Gabler: Pyrotechnik hat längst Eingang gefunden in die Bildsprache der Werbung. Nehmen wir "Tipico", die damit spielen und es verwenden. Auch "Adidas" hatte ähnliche Effekte genutzt. Das ist dann sehr ambivalent: Die Bilder sind gut genug, um zum Beispiel Produkte zu bewerben. Aber auf einer moralischen Ebene wird es dann verurteilt? Das ist tatsächlich nicht glaubwürdig.
Gibt es denn Alternativen zur gängigen Pyrotechnik?
Gabler: Es gibt Pyro, das nicht bei 1000 Grad, sondern "nur" bei einigen hundert Grad abgebrannt wird. In Skandinavien wurde damit schon getestet, damit ist das Verletzungsrisiko schon erheblich reduziert. Es gab auch schon Beispiele für das legale Abbrennen von Pyrotechnik, wie es damals zum Beispiel in Hamburg der Fall war, als der Spielbetrieb nicht in Gefahr war. Deshalb sollte man von einem rigorosen "Nein" abkommen. Wir sollten in alle Richtungen denken und Möglichkeitsräume aufmachen, statt in krasse Gegensätze zu verfallen zwischen komplettem Verbot und der Haltung "Machen wir jetzt trotzdem".
Gibt es aktuell einen Austausch zwischen den beiden Lagern?
Gabler: Nach der Debatte 2011 wurde das Thema ein wenig beerdigt. Aus Perspektive der Verbände wäre das der Politik gegenüber eine ziemliche Provokation, das Thema nun wieder zu öffnen. Dann würden einige Innenminister ihnen wohl aufs Dach springen. Es gibt aber lokale Bemühungen, in Hamburg, in Frankfurt gab es mal eine Choreo aus Folien und Stäben, die mit Rauch gefüllte Luftballons darstellten. Es gab keinen Rauch und kein offenes Feuer und damit auch keine Angriffsfläche. In Berlin hat sich die rot-rot-grüne Koalition im Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass ein Pilotprojekt zum legalen Abbrennen von Pyrotechnik ermöglicht werden soll.
Über den Experten:
- Jonas Gabler (*1981) ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich seit über 10 Jahren intensiv mit Fußballfankultur. Er ist Mitglied der "Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit", einer gemeinnützigen GmbH, die Forschung, Beratung und Qualifizierung zu Themen rund um Fußballfankultur anbietet.
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