Es war der Schock schlechthin für die Brasilianer: Superstar Neymar brach sich den Lendenwirbel und fehlt den Gastgebern im Halbfinale der WM 2014 gegen Deutschland. Doch dadurch wird das Spiel nicht einfacher für die DFB-Elf. Im Gegenteil: Darum könnten die Brasilianer nun noch gefährlicher sein.
Neymar ist nicht dabei, auch Kapitän Thiago Silva fehlt den Brasilianern gelbgesperrt. Aus deutscher Sicht klingt das eigentlich ganz gut. Ist die "Selecao" nun führungslos und ungeordnet? Ist der Finaleinzug der Gastgeber in weite Ferne gerückt?
Nein, von diesen Personalien darf sich Deutschland nicht täuschen lassen. Klar wiegt der Ausfall von Neymar schwer. Er verteilt im Mittelfeld die Bälle, zieht die komplette Aufmerksamkeit der Abwehr auf sich und schießt auch noch Tore – vier alleine bei dieser WM.
Doch durch Neymars Ausfall ist Brasiliens Spiel unberechenbar. Wie soll sich Jogi Löw auf eine Mannschaft taktisch vorbereiten, die er so noch nicht gesehen hat? Neymar war in allen bisherigen Spielen der Brasilianer Dreh- und Angelpunkt. Erst das Spiel am Dienstagabend um 22:00 Uhr (live im ZDF und bei uns im Ticker) wird zeigen, wie das Spiel der "Selecao" ohne den Superstar aussieht. Löw kann dann nur mit Anweisungen aus der Coachingzone reagieren.
Starspieler haben's gegen Deutschland schwer
Vielleicht wäre es sogar ein Vorteil für die deutsche Mannschaft, wenn Neymar spielen könnte. Die DFB-Elf hat mehrmals bewiesen, wie sie einen Starspieler aus dem Spiel nimmt. In der Vorrunde machte Portugals Cristiano Ronaldo keinen Stich gegen die deutsche Abwehr. Auch beim 4:0-Sieg gegen Argentinien im Viertelfinale der WM 2010 war Superstar Lionel Messi nur ein Schatten seiner selbst. In beiden Fällen wurde der jeweilige Starspieler meist gedoppelt, seine Pass- und Laufwege geschickt zugestellt.
Die Nationalelf hat aber noch weitere Topspieler im Kader. Fußballer wie Dani Alves, Marcelo oder Oscar spielen bei europäischen Spitzenklubs wie dem FC Barcelona, Champions-League-Sieger Real Madrid und dem FC Chelsea. Auf ein desillusioniertes Brasilien wird Deutschland heute Abend sicherlich nicht treffen.
Bei der "Selecao" macht sich wegen Neymars Verletzung eine Jetzt-erst-recht-Stimmung breit. "Wir spielen für ihn und für unser Land. Wir wissen, was wir jetzt zu tun haben", sagte Trainer Luiz Felipe Scolari. Der Ausfall seines Superstars sei für ihn zwar "eine Katastrophe". Scolari glaubt aber, dass das Team sein Fehlen kompensieren wird: "Jeder von uns ist jetzt ein bisschen Neymar."
Verderben ruppige Brasilianer der DFB-Elf die Lust?
Neben eingespielten Stammspielern wie Marcelo oder Hulk kommt heute wohl Dante für den gelbgesperrten Thiago Silva zum Einsatz. Der kopfballstarke Innenverteidiger betritt den Platz hochmotiviert. Es ist sein erster Einsatz bei dieser WM, dazu noch gegen viele seiner Kollegen vom FC Bayern. Auch Luiz Gustavo kehrt voraussichtlich nach seiner Gelbsperre ins Team zurück. Der Spieler des VfL Wolfsburg wird gegen seine Münchner Ex-Kollegen, mit denen er zwischen 2011 und 2013 zusammen spielte, sicherlich auch hochmotiviert sein.
Einen Abräumer wie Luiz Gustavo brauchen die Brasilianer auch gegen Deutschland. Die "Selecao" trat ohnehin mit 96 Fouls und zehn Gelben Karten bei dieser WM äußerst ruppig auf. Um pass- und spielfreudige Deutsche beim Spielaufbau zu behindern, könnte diese Spielweise durchaus das richtige Rezept sein. Außerdem müssen die Brasilianer auch keine Rücksicht auf eine Sperre fürs Finale nehmen. Alle bisherigen Verwarnungen wurden nach dem Viertelfinale gelöscht.
Auch die brasilianischen Fans wissen nach dem Ausfall Neymars, dass sie nun mehr denn je gebraucht werden. Der Großteil der rund 60.000 Zuschauer im Estadio Mineirao in Belo Horizonte werden die "Selecao" nach vorne peitschen und die deutsche Elf gnadenlos auspfeifen. Die Deutschen müssen in einem Hexenkessel bestehen. Es ist beeindruckend, wie die Fans zusammen mit ihrem Team die brasilianische Nationalhymne schmettern, auch wenn die Musik schon verstummt ist. Da kann der gegnerischen Mannschaft schon mulmig zumute werden.
Jogi Löw besinnt sich auf die eigenen Stärken
Doch Jogi Löw glaubt daran, dass sein Team diese äußeren Einflüsse beiseiteschieben kann. "Wichtig ist, dass die Spieler konzentriert und mutig ihre Dinge erfüllen. Wir wollen uns nicht nach dem Gegner richten. Wir wollen nicht irgendwelche Dinge machen, die wir sonst nicht machen", sagte der Bundestrainer. Die Botschaft ist klar: Die deutsche Nationalelf muss auf sich schauen – und sich nicht mit der Frage befassen, ob Brasilien mit oder ohne Neymar stärker ist.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.