Es war gewiss nicht dem Fritz sein Wetter, im Maracana von Rio de Janeiro. Es war heiß und schwül, als die deutsche Nationalmannschaft an diesem geschichtsträchtigen Tag exakt 60 Jahre nach dem Wunder von Bern gegen Frankreich anzutreten hatte. So heiß und so schwül wie noch bei keinem Spiel der deutschen Mannschaft bei diesem Turnier.
Die klimatischen Bedingungen waren ein bestimmendes Thema im Vorfeld der Spiele, nur haben die Urkräfte bisher kaum eine Mannschaft davon abgehalten, in jeder Partie bis ans Limit zu gehen. Auch die DFB-Auswahl. In Rio aber musste sie viel mehr riskieren als bisher.
Für das Viertelfinale gegen die Equipe Tricolor aber hatte sich Joachim Löw einiges zugemutet. Er hat sein Spielsystem flexibler gestaltet, er hat auf bewährte Kräfte überraschend verzichtet, hat seinen wichtigsten Spieler entgegen seiner eigenen Ankündigung nun doch auf eine andere Position verpflanzt, dafür aber drei Akteure auf Schlüsselpositionen berufen, die erwiesen nicht bei einhundert Prozent ihrer Leistungsfähigkeit sind.
Man könnte also sagen, Joachim Löw habe Mut und Chuzpe bewiesen. Seine Mannschaft hat das untypischste Löw-Spiel seit gefühlten Ewigkeiten auf den Rasen gearbeitet: Nicht schön anzusehen, ergebnisorientiert, sachlich-nüchtern, schnörkellos. Wie ein Ausriss aus den trüben Zeiten der 80er Jahre. Dafür sprechen zumindest einige Statistiken.
Am Ende von 90 immerhin spannenden Minuten liefen gleich fünf deutsche Spieler mehr als der beste Franzose und das gesamte Team über sieben Kilometer mehr als der Gegner. Deutschland hat nach dem Tor von Mats Hummels nun schon vier Treffer nach einem Standard erzielt - das sind jetzt schon doppelt so viele wie bei der letzten Weltmeisterschaft in Südafrika.
Mannschaft erfindet sich neu
Die deutsche Mannschaft ist gerade dabei, sich neu zu erfinden: Weg vom schönen Spiel, hin zu mehr kühler Effizienz. Per Mertesackers Rede nach dem Algerien-Spiel kann man nun nicht nur als kleinen Zornanfall betrachten, der Innenverteidiger sprach offenbar für die gesamte Mannschaft: Wir wollen hier den Titel - egal wie!
Löws taktische Änderungen griffen besonders im Defensivverhalten. Zwar war Lahm auf seiner neuen, alten Position auch nicht über alle Zweifel erhaben, zwar reichte bei Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira die Luft für 90 Minuten auf absolutem Top-Niveau nicht und Miroslav Kloses Antrittsschnelligkeit war auch schon mal besser.
Aber die Defensive funktionierte gut, die Balance innerhalb des deutschen Spiels stimmte. Und zählt man die Aktionen, in denen Torhüter Manuel Neuer seine Hände gewinnbringend benutzen musste, bleiben drei Aktionen im Gedächtnis. Gegen eine Mannschaft, die mit zehn Treffern bisher die drittgefährlichste des Turniers war.
"Anders als gegen Algerien hatten wir heute ein Spiel, in dem wir nicht verlieren konnten. Wir haben guten Fußball gezeigt, wussten wie es geht. Die Abwehr hat es gut gemacht, stand sehr kompakt", sagte Neuer nach dem Spiel und formulierte damit auch jene wachsende Zuversicht, die jetzt in den ganz großen Spielen noch ungeheuer wertvoll sein kann.
Bei den letzten Turnieren, und Deutschland erreichte seit 2006 bei vier Endrunden jeweils mindestens das Halbfinale, spielte die Mannschaft teilweise tollen Fußball. Aber die letzte Überzeugung in die eigenen Stärken war nicht da. So ein hart erkämpftes 1:0 gegen Frankreich ist nun vielleicht sogar mehr Wert als ein glanzvolles 4:1 gegen England oder ein 4:0 gegen Argentinien. Weil die Mannschaft jetzt weiß: Sie kann auch in den engen Spielen schmutzig siegen.
Pragmatismus pur
Löws Aufstellung war Pragmatismus pur, ein Kompromiss und weit von einer Wunschvorstellung entfernt. Aber der Bundestrainer hat aus den ersten drei Wochen des Turniers gelernt, er hat seine Parameter neu geprüft und entsprechend reagiert. "Wir brauchen alle Spieler, und wenn ich das Gefühl habe, dass ich einen Reiz setzen muss, dann mache ich das. Die Mannschaft steigert sich von Spiel zu Spiel, sie ist konzentriert und fokussiert, arbeitet sehr gut", zeigte sich Löw nach dem Spiel dann auch sichtlich zufrieden mit dem Auftreten seiner Mannschaft.
Eine weniger wichtige Statistik weist Joachim Löw mit einer Siegquote von 75 Prozent bei WM-Turnieren als erfolgreichsten deutschen Nationaltrainer aller Zeiten aus. Deutschland ist seit Samstagabend in der umstrittenen Weltrangliste der FIFA auf Rang eins gelistet und steht zum vierten Mal in Folge in einem WM-Halbfinale, was noch so einen neuen Rekord bedeutet.
Löw hat sogar nicht nur eigene Rekorde geschaffen und Serien verlängert - er hat auch die seines Gegenübers beendet. Didier Deschamps war bisher als Spieler und Trainer bei Weltmeisterschaften in zehn Spielen ungeschlagen. Bis zu diesem Nachmittag im Maracana.
Aber Rekorde und Serien sind dieser Mannschaft einerlei. Es zählt der Erfolg der Gemeinschaft. Das Team hat sich im Maracana bereits umgeschaut und ein kräftiges Stück Atmosphäre im berühmtesten Stadion der Welt geschnuppert. "Alle Spieler haben den Fokus, wieder nach Rio zurückzukommen", sagt Teammanager Oliver Bierhoff. Dort steigt am 13. Juli das Endspiel dieser Weltmeisterschaft.
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