Viele Experten fürchteten vor dem Start der Schach-WM, dass Titelverteidiger Ding Liren wegen psychischer Probleme nicht konkurrenzfähig sein könnte. Doch der ungewöhnliche Chinese überrascht mal wieder alle. Reicht es zum Titel?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julian Münz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Einfach nur sitzen und warten. So sah man Weltmeister Ding Liren zuletzt sehr oft bei der Schach-Weltmeisterschaft, die in diesen Tagen in Singapur stattfindet. In steifer Körperhaltung schaute der Chinese in einem kargen Warteraum mit kleinem Sessel und Beistelltisch in die Leere, während sein Kontrahent Dommaraju Gukesh über den nächsten Zug nachdachte. Hin und wieder aß er ein paar Nüsse oder trank etwas. Schnell wurde der "chillende Ding" zu einem viel geteilten Bild unter Schach-Fans.

Mehr News zum Thema Sport

Im klassischen Schach gehört das lange Ausharren zum Spiel mit dazu, es ist fast schon ein zentraler Teil des Ausdauer-Denksports. Viele Spieler versuchen, diesen Teil des Spiels zu verschleiern und zu überbrücken. Sie laufen umher, gucken von verschiedenen Seiten auf das Brett, denken konzentriert nach. Nicht so Ding, der einfach nur wartete, als würde bald der Bus kommen. Mit seiner authentischen Haltung zeigt er erneut, dass er zu den ganz besonderen Spielern des Spitzenschachs gehört.

Ding stellte Experten vor Rätsel

Viel wurde vor dem Start des WM-Turniers in der vergangenen Woche über den Gesundheitszustand von Ding gerätselt. Nach seinem überraschenden WM-Sieg gegen
Jan Alexandrowitsch Nepomnjaschtschi vor etwa eineinhalb Jahren hatte er eine mehrmonatige Pause eingelegt, an sein früheres Niveau kam er danach nicht mehr heran. Im Gegenteil: Ding baute so stark ab, dass er etwa bei der Schacholympiade in Budapest kein einziges Spiel gewann. Wäre er als Titelverteidiger nicht sowieso qualifiziert gewesen, hätte Ding wohl nicht bei der WM gespielt.

Einige befürchteten deshalb gar, dass der 31-Jährige gar nicht konkurrenzfähig sei. Dem durch den Rückzug von Magnus Carlsen sowieso schon leicht ramponierten Image hätte ein einseitiges WM-Duell weiter geschadet. Ding berichtete auf Nachfragen selbst am ehrlichsten, wie es ihm gehe. Er habe mit Depressionen und Schlafstörungen zu kämpfen, gab er vor dem Turnier preis. Doch als es losging, war er plötzlich da.

Gleich das erste Spiel der WM konnte der Chinese gegen seinen favorisierten Herausforderer, den 18-jährigen Inder Gukesh, mit Schwarz gewinnen - quasi der Auswärtssieg des Schachs. Immer wieder gelingt es Ding, Gukesh mit ungewöhnlichen Eröffnungen zu überraschen. Es ist nahezu die einzige Möglichkeit, sich im Spitzenschach gegen hochklassige Gegner noch durchsetzen zu können.

Schach-WM

  • Bei der Schach-WM in Singapur trifft der Titelverteidiger Ding Liren aus China auf den Herausforderer Dommaraju Gukesh aus Indien. Gukesh konnte sich zuvor in einem Kandidatenturnier für den WM-Kampf qualifizieren. Die zwei Spieler treffen in insgesamt 14 Partien aufeinander, für einen Sieg gibt es einen Punkt, bei einem Remis jeweils einen halben. Wer als erstes 7,5 Punkte holt, ist neuer Schach-Weltmeister.

Und auch wenn es eng wird, funktioniert Ding: Im siebten Spiel der WM erkämpfte er sich gegen Gukesh in einer Partie, die für ihn lange Zeit nach einer Niederlage aussah, noch das Remis. Nach der Hälfte der Partien ist der WM-Kampf nun weiter ausgeglichen.

Gustafsson hadert bei Ding

Ganz bei seinem alten Können ist aber auch Ding noch nicht angekommen. Denn auch wenn er mit seinem Gegner durchaus mithalten kann, spielt Ding zu vorsichtig, um den Titel auch am Ende gewinnen zu können. Wenn er eine starke Position auf dem Brett hatte, setzte er lieber auf ein weiteres Unentschieden, statt den Sieg zu forcieren. "Für Dings Siegchancen ist das ein sehr schlechtes Zeichen, dass er sich nicht traut, auf Sieg zu spielen", analysierte der deutsche Schach-Bundestrainer Jan Gustafsson im Live-Kommentar nach der vierten Partie.

Auch das norwegische Schach-Ass Carlsen, einer der großen Kritiker der Schach-WM, hält Ding deshalb noch nicht imstande, die WM zu gewinnen. Und der wohl beste Schachspieler der Welt ist wieder einmal nicht wirklich begeistert über das spielerische Niveau bei der WM. Die vielen Ungenauigkeiten in den Partien seien "zu einem gewissen Maße frustrierend zu sehen", bemängelte Carlsen.

Ding müssen solche Kommentare von außen jetzt kaltlassen. Für ihn geht es darum, die Schachwelt in den letzten Partien ein weiteres Mal zu überraschen. Es wäre wohl nicht das erste und nicht das letzte Mal.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.