• Mit "Top Ten" legen Culcha Candela heute ihr zehntes Studioalbum vor, produziert größtenteils in der Corona-Zeit.
  • Ihre gute Laune haben sich die Musiker nicht nehmen lassen.
  • Hier sprechen Mateo Jasik, Johnny Strange und Chino con Estilo über Corona-Vokabular, schwarzen Humor, nachhaltige Songs - und warum man als Musiker an Tiktok nicht mehr vorbeikommt.
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Culcha Candela, mit "Top Ten" erscheint jetzt Euer zehntes Studioalbum. Von welchen Künstlern habt Ihr selbst zehn Platten im Schrank?

Mateo: Metallica!

Chino: Ich kaufe mir keine Alben mehr, bin aber zum Beispiel großer Fan von Snoop Dogg.

Johnny: Die meisten Alben habe ich vermutlich vom Rapper KRS-One.

Wie gut funktioniert heute noch das Albumformat?

Johnny: Mir gefällt, dass man mit einem Album einen bestimmten Zeitabschnitt festhält und wir so auch die Vielseitigkeit, die uns als Band ausmacht, darstellen können.

Mateo: Es macht keinen Sinn mehr, mit Intro, Outro oder Skits zu arbeiten, solche Konzeptalben sind im Zeitalter des Streaming irrelevant geworden. Für uns funktioniert es, weil wir unsere Alben schon immer bunt gemischt haben, mit sehr unterschiedlichen Songs und Richtungen. In einer Zeit, in der die Leute Musik immer mehr in Form von Playlists konsumieren, passt das.

"Top Ten" entstand komplett in der Corona-Zeit...

Mateo: ... mit Ausnahme von "Rhythmus wie ein Tänzer".

Und es ist trotzdem nicht deprimierend geworden.

Johnny: Wir haben uns bewusst entschieden, das Thema, um das sich seit einem Jahr gefühlt jedes Gespräch dreht, nicht auch noch auf das Album zu packen. Zumindest nicht plakativ, sondern nur in sehr kleinen Häppchen verpackt.

Chino: Vom pandemischen Vokabular hat man inzwischen wirklich genug gehört, da wollten wir jetzt nicht auch noch Pandemie-Trübsal-Songs machen.

Mateo: Wir haben auch zwei, drei neue Stücke aufgenommen, die inhaltlich im Club-Kontext spielen, sozusagen eine Fantasie aus vergangenen Tagen. Weil das aber im Moment nicht funktioniert, heben wir uns die für die Zeit nach der Pandemie auf, wenn man sich wieder im Club mit fremdem Schweiß umgeben kann.

Ihr textet jetzt in "Hope", nach der Pandemie gebe es "jeden zweiten Tag einen Rave"...

Mateo: Das ist Ironie, schwarzer Humor...

Chino: ... auch Wunschdenken. Als wir die Zeile geschrieben haben, hatten wir noch die Vorstellung, dass es 2021 ein bisschen besser laufen würde …

Mateo: … aber dann kam das Impfmanagement der Bundesregierung.

Aber glaubt Ihr daran, dass das Kulturleben wieder so wie früher sein wird?

Chino: Ich hoffe, dass wir diese Normalität wieder zurückerlangen können und die Leute sich nicht nur noch zuhause hinter ihren digitalen Endgeräten verschanzen. Echte Zwischenmenschlichkeit ist unersetzbar, und ich glaube auch, dass die Menschen ein starkes Bedürfnis danach haben.

Mateo: Ich denke, dass wir mit dieser Pandemie einen Umgang lernen müssen, wie wir ihn früher auch bei HIV gefunden haben. Als ich aufgewachsen bin, hatte man immer im Hinterkopf, dass Aids existiert und gefährlich ist, deshalb Safer Sex und Kondome – und trotzdem haben wir unser Leben gelebt. Es wäre gut, wenn wir auch bei Corona lernen, damit unpanischer umzugehen.

Und wir müssen in Zukunft wirklich unsere Finger von der Natur lassen. Umweltverschmutzung und Ausbeutung des Planeten ist großer Mist. Wenn wir weiter in Fledermausnestern rumstochern, wird so etwas immer wieder passieren. Das Problem ist nicht Corona, sondern das Problem ist tatsächlich der Mensch.

Viele Eurer Texte sind geprägt von Hoffnung, Zuversicht, guter Laune. Seid Ihr auch privat diejenigen, die das Umfeld aufheitern?

Johnny: Ja, das würde ich schon so sagen. Wobei wir jetzt nicht nur von schlechtgelaunten Leuten umgeben sind.

Chino: Wir sind privat wahrscheinlich wie die meisten anderen Menschen auch, die aktuelle Krise geht an uns nicht spurlos vorbei. Aber uns verbindet, dass wir trotzdem den Glauben an das Gute haben. Auch angesichts des Klimawandels kann man ja zu dem Gedanken neigen, dass jetzt alles den Bach runtergeht. Ich bin da aber eher hoffnungsvoll, dass man es noch umdrehen kann, wenn man jetzt handelt und die richtigen Schritte einleitet.

Mateo: Ich bin schon jemand, der versucht, andere Menschen zu motivieren – auch wenn es mir manchmal schwerfällt, mich selbst zu motivieren. Bei meinem eigenen Label habe ich mehrere Newcomer, die es im Moment sehr schwer haben. Die haben gerade Abitur gemacht und wurden von der Politik komplett vernachlässigt. Denen sage ich jeden Tag: Kopf hoch, das wird schon!

Ein Problem für viele Musiker ist in der Zeit ohne Auftritte, dass die Einnahmen durch Streaming viel zu gering sind. Wie ist das bei Euch?

Mateo: Wir könnten vom Streaming leben, aber das wäre kein schönes Leben. Es ist knochenhart, allein mit Musikvideos und Streams Umsatz zu generieren und funktioniert bei uns vor allem, weil wir über viele Jahre Hits produziert haben. Allerdings liegt der Anteil von Streaming an unserem Umsatz bei maximal 20 Prozent, das meiste verdienen wir mit Konzerten.

Ihr habt Euch 2020 einmal mit einem sarkastischen Tweet zu den Bühnenschließungen zu Wort gemeldet – und daraufhin viel Gegenwind bekommen. Wie seht Ihr das heute, ein Jahr später?

Mateo: Keiner ist perfekt, jeder kann sich irren – und wenn man in der Öffentlichkeit steht, kriegen das sehr viele Menschen mit, innerhalb von Sekunden.

Wir halten uns eigentlich aus dem Boulevard raus, es gibt bei uns auch keine kalkulierten Skandale wie im Rap-Business. Doch an dem Tag habe ich mich wie ein Boomer auf Twitter verirrt und mich dort im Ton vergriffen. Es war zu Beginn der Pandemie, viele Menschen waren panisch und ängstlich, da kann ich verstehen, dass manchen meine Tonalität aufgestoßen ist.

Inhaltlich bleibe ich aber bei der Aussage, nämlich dass die Veranstaltungsbranche eine Perspektive braucht. Es war damals ja abzusehen, dass die Branche wenig Hilfen bekommt, als erstes schließen muss und als letzte wieder aufmachen darf.

Debatten über Corona sind häufig sehr aufgeheizt, vor allem im Netz...

Mateo: Ja, es ist schade, dass es so weit gekommen ist, dass viele Leute mit unterschiedlichen Meinungen keine normale Diskussion mehr führen können, ohne sich in extreme Lager zu spalten.

Das ist sicher eine Nebenwirkung von Corona und schädlich für die Gesellschaft. Denn nicht jeder, der die Politik kritisiert, leugnet gleichzeitig die Krankheit. Wir finden einige der ergriffenen Maßnahmen nicht gut, sind direkt davon betroffen – und wenn Politiker, die dafür bezahlt werden, ihren Job schlecht machen, muss man sie kritisieren können. Aber natürlich gilt wie so oft: Der Ton macht die Musik.

Ihr habt aus dem Twitter-Shitstom also nicht die Konsequenz gezogen, dass Ihr Euch zu Corona nicht weiter äußert.

Johnny: Nein, im Gegenteil, man sollte sich im Sinne der Meinungsfreiheit immer trauen, seinen Standpunkt zu vertreten, gerade in so einer Zeit, wo sich die Gesellschaft neu finden muss. Aber man muss dafür die richtigen Worte wählen...

Chino: … und man muss darauf gefasst sein, dass es in den Sozialen Medien verzerrt dargestellt wird. Die Netzgemeinde nimmt so etwas immer dankend auf, um wieder eine neue Sau durchs Dorf treiben zu können.

Culcha Candela gibt es nun schon 19 Jahre. Wie bleibt man musikalisch jung?

Chino: Internet. Man konsumiert einfach alles, was man in die Finger kriegt, und lässt sich davon inspirieren.

Mateo: Ich beschäftige mich nicht nur wegen der Band, sondern auch für mein Label von morgens bis abends mit neuer Musik und neuen Talenten, da versuche ich am Puls der Zeit zu sein.

Ich finde zum Beispiel, dass deutsche Musik heute so unpeinlich ist wie nie zuvor. Viele neue Produktionen im Bereich Rap oder Trap sind qualitativ hochwertig, und wäre die Sprachbarriere nicht, könnten sie locker mit US-Künstlern mithalten.

Beschäftigt Ihr Euch auch mit der Plattform Tiktok, die vor allem bei jungen Menschen beliebt ist?

Johnny: Ja, da muss man durch.

Chino: Es lohnt sich aber auch. Man taucht dort tatsächlich in eine ganz andere, neue Welt ein und entdeckt viele inspirierende Dinge.

Mateo: Klar ist jede neue Plattform erst mal gewöhnungsbedürftig, ich habe auch schon einige Künstler – die viel jünger sind als ich – davon überzeugen müssen, auf Tiktok zu gehen. Weil es im Moment nun mal die wichtigste meinungsbildende Musikplattform ist, da kommt niemand mehr dran vorbei.

Chino: Wir haben 2020 damit angefangen, im November hatten wir dann zur US-Wahl einen kurzen Clip gedreht, der auf Tiktok viral ging und binnen 24 Stunden eine Million Mal angeschaut wurde. Diese Technologie bringt so etwas Verrücktes zustande, und sie hat einige Gesetzmäßigkeiten, die sich in den letzten Jahren im Musikgeschäft etabliert haben, nochmal auf den Kopf gestellt. Auf Tiktok können auch absolute Nobodys über Nacht durchstarten.

Die hohe Geschwindigkeit der Plattform hat Euch also nicht abgeschreckt...

Mateo: Das ist halt die moderne Zeit, die Songs sind kürzer, die Videos sind schneller geschnitten...

Johnny: Als Konsument hat man heute ja immer weniger Bezug zu einem bestimmten Künstler, mit dem man sich identifiziert. Stattdessen hast du viele einzelne Songs, die du emotional verknüpfst. Und dafür ist Tiktok genau das Medium, dort verknüpfst du die Musik mit bestimmten Tätigkeiten oder emotionalen Dingen.

Seht Ihr Euch eigentlich als 'Berufsjugendliche'?

Johnny: Der eine mehr, der andere weniger. Auf jeden Fall wollen wir aktuell bleiben. Es ist auch wichtig, dass man sich der Herausforderung stellt und versucht, mit den jungen Leuten mitzuhalten. Das hält dich fit.

Chino: Es muss sich aber natürlich anfühlen. Wenn man sich Dinge nur künstlich aneignet und nicht merkt, dass man eigentlich schon längst weg vom Fenster ist, wird es peinlich.

Johnny: Ich glaube, man wird alt in dem Moment, wo man entscheidet: 'Ich bin jetzt zu alt dafür.' Wir haben uns entschieden, uns nicht als zu alt zu sehen, um zeitgemäße Musik zu machen.

"Du denkst, wir lassen es gut sein, aber noch lange nicht", singt Ihr jetzt auf dem Album.

Chino: Das ist eine Drohung! (alle lachen)

Johnny: Natürlich gibt es Leute, die sagen, 'Ihr seid zu alt für Teenager-Musik'. Andererseits gibt es immer noch viele Teenager, die unsere Musik hören. Das gibt einem Selbstbewusstsein, auch ein Stück weit Gelassenheit. Mir würden einige Künstler einfallen, die im Hiphop vor ein paar Jahren richtig groß waren, die heute aber keiner mehr kennt.

Ist Eure Musik nachhaltiger?

Johnny: Ich glaube, dass bestimmte Dinge einfach eine längere Haltbarkeit haben. In unserem Fall ist es wahrscheinlich die positive Stimmung. Im Rap-Game zum Beispiel gibt es nur sehr wenig positive Songs. Es ist auch nicht einfach, einen gut gelaunten Song zu schreiben, der aber trotzdem cool ist...

Mateo: … bei dem du dich nicht fremdschämen musst vor lauter Schleim.

Johnny: Das ist viel schwieriger, als einen harten, kritischen Song rauszuhauen. Rapper haben uns dafür immer belächelt und im Hiphop wurden wir nie richtig akzeptiert. Trotzdem haben wir es auch dort geschafft, bekannt zu werden.

Cro zum Beispiel ist einer der wenigen, der positiven Rap macht – und ich finde, der Erfolg gibt ihm Recht. Das Positive hält länger und ist inhaltlich nachhaltiger.

Der Rammstein-Gitarrist Richard Kruspe sagte einmal, für ihn sei "das nächste Rammstein-Album immer das letzte Album", weil der Entstehungsprozess sehr ermüdend sei. Wie ist das bei Euch?

Johnny: Auch bei uns ist es nicht immer einfach. Wir haben verschiedene Ansichten, wollen in unterschiedliche Richtungen, jeder tickt anders... Das ist die große Herausforderung bei so einer Albumproduktion, dass man sich zusammenrauft. Und ich bin stolz darauf, dass wir das jetzt schon fast 20 Jahre durchgezogen haben.

Mateo: Es gibt eine großartige Musikdokumentation über Metallica, "Some Kind of Monster", in der zu sehen ist, wie die Band auf Tour einen Psychotherapeuten dabei hatte, damit sie als Gruppe noch an einem Tisch sitzen konnten. Irgendwann haben sie dann aber ihre Konflikte überwunden und den Therapeuten gleich am nächsten Tag gefeuert. Obwohl bei uns die Dimensionen ganz andere sind, konnte ich da viele Parallelen entdecken.

Wer war denn Euer Psychotherapeut?

Mateo: Da gab es schon einige, manche sind auch kläglich gescheitert. (lacht) Unsere Managerin ist auf jeden Fall ein wichtiger Faktor, ein Kleber, der das Ganze zusammenhält.

Ja, man muss immer davon ausgehen, dass das nächste Album das letzte sein könnte. Vielleicht machen wir es dann aber wie Howard Carpendale: Der geht jedes Jahr zum letzten Mal auf Tour, säuselt "Es tut mir leid, wir werden uns nicht mehr wiedersehen" – und macht ein paar Monate später die Abschiedstour von der Abschiedstour. Richtig clever.

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