Weihnachten bedeutet: Zauberhafte Tage mit der Familie und mehr Kalorien pro Tag als im Rest des Jahres pro Monat. Und die logistische Herausforderung, zwischen Frühstück, Brunch, Mittagessen, Teatime, Dinner und Mitternachtssnack nicht zu viel zu naschen – und dabei nicht unnötig die Couch zu verlassen.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Kulinarisch eine Reise in die Vergangenheit, emotional auch. Stets begleitet von der Frage: Welcher entfernte Onkel ist unterjährig zum Querdenker mutiert? Welche angeheiratete Tante überrascht mit einem erfrischenden Monolog darüber, sie wäre keine Verschwörungstheoretikerin, aber was sie da neulich über Bill Gates, den Corona-Impfstoff oder das Asylgesetz im Internet gelesen hat, hätte sie dann doch ein wenig nachdenklich gemacht.

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Zeiten des Heimkommens. Der Rückkehr in Elternhäuser, die einem früher so unendlich groß vorkamen und gleichzeitig so unheimlich beengt. Und von denen man heute denkt, sie wären vermutlich in den vergangenen zehn Jahren ein paar Mal zu heiß gewaschen worden, denn irgendwie wirken sie so viel kleiner. Fast wie eingelaufen.

Das eigene Kinderzimmer gleicht eher einem größeren Puppenhaus als so ziemlich der gesamten privaten Welt, die man hatte, so zwischen dem zwölften und 17. Lebensjahr. Weihnachten in der Heimat. Tage, in denen man technische Geräte der Eltern von absurden Einstellungen befreit, die natürlich niemand aus der Erzeugerfraktion zu verantworten hat: "Das war plötzlich einfach so."

Man gibt Schnell-Tutorials darüber, wie man bei WhatsApp Fotos mit sendet oder E-Mail-Adressen auf iPhones einrichtet. Im Tausch bekommt man drei Tage lang vier Mal am Tag diverse Lieblingsessen aus der Zeit, in der man acht Jahre alt war. Man sagt "schmeckt fantastisch", oder wenn die Eltern immer noch denken, man würde mal Arzt oder Rechtsanwalt werden: "Schmeckt wie eine Zeitmaschine in meine glückliche Jugend."

Dass man schon lange keine Spinatlasagne mehr mag oder Würstchen im Schlafrock, weil man auch keine Stoff-Giraffen mehr liebt oder die rosa Sandalen, die man am liebsten sogar zum Schlafen getragen hätte, damals, mit acht, das sagt man nicht. Zu schön ist diese kurze, surreale Flucht in eine Zeit, als die Welt noch heile war. Also, nicht wirklich heile, aber in der die größten Probleme jedenfalls waren, sich für eine Eissorte zu entscheiden oder warum Lisa einen nicht zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen hatte. Nicht Gaspreisbremsen, Mieterhöhungen oder Steuerprüfungen.

30 Jahre alte Rentner

Alles auf gewisse Weise schön – zumindest, bis man sich am zweiten Feiertag mal raus quält und mit alten Freunden, die man im Prinzip nur an Weihnachten sieht, weil sie eben zufällig auch hier geboren sind, in seine alten Clubs geht. Orte, die noch immer aussehen wie damals, nur dass man niemanden mehr kennt und alle wahnsinnig jung sind und man sich plötzlich irgendwie vorkommt wie eine besorgte Mutter, die auf einer fremden Party ihre Tochter sucht.

Die Orte, an denen man wichtige Erfahrungen gesammelt und die ersten Gehversuche beim Knutschen gemacht hat, haben heute Teenager eingenommen, die noch gar nicht geboren waren, als man selbst das erste Mal dort war. Und die schauen einen in dieser schönen Weihnachtsnacht plötzlich an als wäre man ein Alien, das sich mit seinem Raumschiff verflogen hat und versehentlich aus einem anderen Jahrhundert hier gelandet ist.

Man möchte den viel zu schrill und freizügig gekleideten Teenagerinnen zurufen, dass viel Alkohol nie dazu führen wird, dass sich der Traumjunge schneller in sie verliebt. Und überhaupt, dass man in diesem Aufzug am Ende auf keinen Fall die Garantie auf einen neuen Boyfriend hat, aber in jedem Fall auf eine Nierenbeckenentzündung. Been there, done that. Man erinnert sich aber zum Glück noch früh genug daran, dass man nicht seine eigene Oma ist und lässt es.

Nach ein paar nostalgischen Stunden mit viel Wein und Beteuerungen, sich im kommenden Jahr aber wirklich nicht erst an Weihnachten wieder zu sehen, schlendert man nach Hause. Durch Straßen, die mehr Geschichten über dein Leben erzählen können, als jeder andere Ort, aber die dir gleichzeitig in jeder Sekunde wortlos erklären, warum du unbedingt von dort wegwolltest.

Weihnachtsschmuck in allen Fenstern erinnern an die Zeit, als es Heiligabend noch ausschließlich darum ging, welche Geschenke man bekam – und vor allem, welche nicht. Euphorie und Enttäuschung lagen schon immer sehr nahe beieinander. Allerdings ging es damals um eine Uhr, von der man sich sicher war, man könne ohne sie nicht mehr weiterleben. Oder eine Handtasche. Wenn man erwachsen wird, verschieben sich Themenbereiche. Die Oberflächlichkeit der Jugend bedeutete auch Sorglosigkeit. Und ist nicht Sorglosigkeit etwas, das wir alle zwischendurch gebrauchen können?

Hör mir zu, ich weiß Bescheid

Die Ruhe der Weihnachtstage und ihre reaktive Rückwärtsgewandtheit führen darüber hinaus oft zu einer verklärten Art von Besinnlichkeit. Plötzlich hält sich jeder für einen Philosophen und schreibt Sätze in Notizbücher, die das übrige Jahr unangetastet in Schubladen rumliegen.

Das gilt besonders für Politiker. Leider schreiben die allerdings nicht in ihren Schaukelstühlen vor ihren Kaminen in Tagebücher, sondern gehen insbesondere in der Weihnachtszeit raus und verkünden das Wort Gottes. Also, ihr eigenes. Offenbar aktiviert der Dezember ein außergewöhnliches Mitteilungsbedürfnis bei Charakteren, die sich sicher sind, der Nation würde für ein gelungenes Weihnachtsfest eigentlich nur ihre Meinung zu den wichtigen gesellschaftlichen Themen der Saison fehlen.

Also gehen sie raus in Talkshows, geben Jahresend-Interviews, fluten Social-Media-Timelines und tingeln durch die Redaktionen, damit möglichst viele von ihren lebenswichtigen Weisheiten profitieren können. Vielleicht eine Sehnsucht nach dem Gefühl, die Menschen da draußen bräuchten zur finalen Erleuchtung unbedingt ihre philosophischen Anwandlungen. Ihre Kalendersprüche, damit ein hartes, schwieriges Jahr mit zahllosen unverhofften Wendungen einen versöhnlichen und hoffnungsvollen Schlussakt erhält.

Vieles, was dann dabei herauskommt, ist inzwischen eher dem Genre Comedy zuzuordnen. Der CDU-Hoffnungsträger und Ikone der konservativen Zukunftsvisionen beispielsweise, Friedrich Merz, ließ die Menschen pünktlich zu den Feiertagen wissen, man könne besonders an Weihnachten exzellent und sehr einfach Energie und damit Geld sparen. Nämlich indem die Menschen – das kann man sich wirklich nicht ausdenken, das hat er wirklich so gesagt – statt mit künstlichen Kerzen den Baum lieber mit echten Kerzen schmücken sollten. Das nämlich, da ist sich Energie-Experte März sicher, hat bahnbrechende Folgen, denn: "alleine dadurch erhöht sich natürlich die Raumtemperatur"!

Merz, der dieses Jahr schon mit Highlights wie "Sozialtourismus ukrainischer Flüchtlinge" oder "bewaffnete, rechtsextreme Reichsbürger, die einen Putsch planen, sind schlimm, aber die Letzte Generation auch" auf einer Fremdscham-Skala von 1 bis 10 hoch dreistellig abgeräumt hatte, vergisst dabei auch lediglich ein paar wenige, im Prinzip unwichtige Details. Dass sich ärmere Haushalte durch die Aufforderung, die Heizung durch echte Kerzen am Weihnachtsbaum zu ersetzen, womöglich verhöhnt fühlen, etwa. Nach unten auf Schwächere treten. Nicht unbedingt der Geist der christlichen Weihnacht. Oder auch, dass Feuerwehr und Krankenhäuser seit Jahren zufrieden und glücklich berichten, durch die Abkehr von echten Kerzen am Christbaum wären Wohnungsbrände drastisch zurückgegangen.

Merz an Merz, hörst Du mich, SOS ich liebe mich!

Egal, mag Privatflugzeug-Fritze da denken. Die Kritik aus allen Richtungen könnte ja theoretisch auch Neid sein. Etwa auf seine Berliner Wohnung und sein Haus im Sauerland, in denen er "nur noch die Räume heizt, die er auch nutzt". Gut, das klingt ein bisschen so, als lebe Merz in Immobilien von einer Größe, bei der man auch schon mal einige hundert Quadratmeter unbenutzt lässt.

Aber muss er sich dafür entschuldigen, bei Blackrock (einem Unternehmen, bei dem im Zuge der "CumEx"-Ermittlungen Durchsuchungen der Steuerfahndung durchgeführt wurden) zum Multimillionär geworden zu sein? Natürlich nicht. Ein paar Räume zu viel zu haben ist kein Kapitalverbrechen. Immerhin ist Merz nicht zur Marie Antoinette der Union mutiert und hat seinem von steigenden Gas- und Strompreisen gebeutelten Volk geraten, statt Monatsticket doch einfach einen Porsche Taycan zu kaufen. Wachs-Kerzen kann sich wohl jeder leisten.

Vermutlich sogar die arbeitsscheuen Sozialschmarotzer, die sich seit Jahren darüber echauffieren, Finanzgenie Merz hätte schon immer recht eindimensionale Positionen vertreten, wenn es um die arbeitende Bevölkerung ging. In seiner Zukunfts-Agenda finden sich aus den letzten Jahren so interessante Erwägungen wie: Rentenalter auf 70 Jahre anheben, Renten voll versteuern oder Kündigungsschutz abschaffen.

Auch seine 2006 eingereichte Klage dagegen, dass Bundestagsabgeordnete ihre Nebeneinkünfte offenlegen müssten, traf bei der Fraktion der Normalverdiener eher auf bescheidene Euphorie. Mit seinem Kerzen-Ratschlag hat der Kanzler der Herzen jetzt aber alle versöhnt. Wenn der Pöbel erstmal langfristig finanziell davon profitiert, stromfressende Elektrokerzen gegen echte Kerzen ausgetauscht zu haben, wird Messias Merz auch endlich geliebt. Zumindest von dem Teil des Pöbels, der seine Bude nicht abgefackelt hat. Frohes Fest!

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