Wenn der Catwalk zum Katerwalk wird: "Germany's Next Topmodel" ist wieder da, ob wir wollen oder nicht. Seit Donnerstagabend wird bei ProSieben wieder gepost, geshootet und gewalkt, was Heidi Klums Fantasie so hergibt. Das Neue daran: Seit Jahren versuchen Eltern, ihre Töchter vor der Gaga-Show zu warnen – nun müssen sie das auch bei ihren Söhnen machen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, da eröffnete Heidi Klum die 18. Staffel "Germany's Next Topmodel". Doch bevor sie damals wieder junge Frauen über Laufstege und zu Schlüpper-Shootings schickte, hatte Frau Klum noch etwas zu sagen. Ein Statement hatte sie vorbereitet, in dem sich Klum rechtfertige, warum sie das alles macht und wie sie das so macht. Eine Rechtfertigung, wohlgemerkt, keine Entschuldigung! Schließlich habe sie sich all die Jahre nichts zuschulden kommen lassen, im Gegenteil!

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In ihrer Show werde nicht manipuliert, es würden keine Schuhe angesägt, den Models werde ausreichend Nahrung zur Verfügung gestellt und die Kandidatinnen dürften sogar gehen, wenn sie nicht mehr mitmachen möchten! Was also kann schlimm sein an einer Show wie "Germany's Next Topmodel", wenn die Kandidatinnen noch nicht einmal ausgehungert oder festgehalten werden? Was haben sich die Kritiker nur all die Jahre gedacht?

Vor allem, wo die Klum nicht nur das Strafgesetzbuch einhält, sondern sogar noch einen obendrauf setzt: "Das Thema Diversity liegt mir sehr am Herzen", erklärte Klum vor einem Jahr. Nun kann man natürlich fragen, warum der Klum Diversity so am Herzen liegt. Vielleicht ja, weil Diversity gerade in der Modewelt so angesagt ist. Diversity hätte sie in ihrer Show ja all die Jahre schon haben können. Aber das ist eine Frage, die sich Heidi Klum selbst beantworten muss. In diesem Jahr wird la Klum erst einmal noch diverser.

Männer auf einer Modezeitschrift – was für ein Fortschritt

"Heute beginnt in Berlin das große offene Casting für 'Germany's Next Topmodel' und Heidi Klum wird nach schönen Männern suchen", erklärt der Off-Sprecher am Donnerstagabend in Folge eins. Mit anderen Worten: Zum ersten Mal in der Geschichte von "Germany's Next Topmodel" dürfen auch männliche Kandidaten teilnehmen. Mit ganz anderen Worten: Nachdem Heidi Klum jahrelang junge Frauen mit Dussel-Walks und Plemplem-Shootings zu Unterhaltungszwecken malträtiert hat, zieht sie jetzt auch noch junge Männer mit rein. Das Okay hatte sie sich seinerzeit ja mit ihrem Statement bereits gegeben.

Und so beginnt die neue Staffel nicht wie vor einem Jahr mit einem Selbst-Freispruch, sondern einfach so. Oder wie die Klum es der wartenden Meute Vielleicht-noch-Modelnder ins Megafon brüllt: "Die 19. Staffel von 'Germany's Next Topmodel' beginnt jeeeetzt!" Und die durchnummerierten Kandidatinnen und Kandidaten sind mindestens genauso euphorisch wie die Klum selbst: "Es ist auf jeden Fall ein unbeschreibliches Gefühl, Heidi zu sehen und vor allem in Real Life", beschreibt eine Kandidatin das Unbeschreibliche.

Aber unbeschreiblich ist nicht nur die Ansicht Klums, sondern noch etwas anderes: Denn die Klum lässt nicht nur Männer zu, sondern verdoppelt auch gleich noch die Anzahl der Gewinner auf zwei. Ein Mann und eine Frau werden am Ende jeweils 100.000 Euro mehr auf dem Girokonto haben und außerdem auch noch vom jeweils eigenen Cover der "Harper's Bazaar" grinsen. Ein Novum, wie die Klum erklärt: "Zum allerersten Mal wird man einen Mann auf der deutschen 'Harper's Bazaar sehen und das ist ein mega Fortschritt auch."

Der strenge Bewertungskatalog bei "Germany's Next Topmodel"

An dieser Stelle kann man sich gut vorstellen, wie das Rad, das Penicillin und das Frauenwahlrecht die Köpfe zusammenstecken und über die Klumsche Fortschrittsdefinition lästern. Aber offenbar ist in der Welt von Heidi Klum die Tatsache, dass nun im Rahmen einer Unterhaltungsshow auch ein Mann vom Titel eines Modeheftchens schielt, ein Zeichen von Fortschritt. Wer sind wir, das infrage zu stellen?

Aber wer darf denn nun am Klumschen Fortschritt teilhaben? Da hat die Klum ganz genaue Vorstellungen. In die engere Auswahl kämen, so Klum, nur Kandidaten, "in denen ich das gewisse Etwas sehe". Das ist so herrlich unkonkret, dass die Klum ohne Rechtfertigungsdruck auch eine Melone oder eine Schubkarre weiterlassen könnte – oder aber die Kandidaten, die sich am besten für ihre Show eignen. Die Produktion scheint den Hauch Beliebigkeit auch gespürt zu haben, der da durch die Berliner Casting-Halle weht, und fragt Klum im gestellten Einzelinterview: "Heidi, wonach bewertest du die Models eigentlich?"

Eine berechtigte Frage, schließlich muss so ein Wettbewerb bei 100.000 Euro pro Modelgewinnernase ja irgendwie gerecht zugehen, oder Frau Klum? "Ich würde das nicht bewerten nennen", meint Klum und zeigt ihren Kriterienkatalog: "Das ist mehr mein Bauchgefühl. Vielleicht meine 30 Jahre im Geschäft. Mein Wunsch auch nach Veränderung. Am Ende des Tages kann ich es wirklich nur als 'Magic' beschreiben, die eine Person besitzt und die sie versprüht." Halten wir fest: Die Klum sucht einen Zauberer. Oder jemanden, dem es egal ist, sich monatelang durch eine Nonsens-Show zu kämpfen, um am Ende vielleicht mit leeren Händen dazustehen – weil es Klums Bauchgefühl so will.

Gekommen, um zu wiehern

Aber welcher Kandidat, welche Kandidatin könnte der Klum ein Lächeln in den Bauch zaubern? Vielleicht ja Kandidatin B146, schließlich schafft die das Kunststück, auf sich selbst laufen zu können: "Ich hab Ehrgeiz, ich hab Kampfgeist, ein ganz, ganz starkes Selbstbewusstsein. Ich sag auch immer: Ich bin selbst der Catwalk, wenn ich auf dem Catwalk bin." Man sollte aufpassen, was man sagt, gerade, wenn man das immer sagt.

Das gilt auch für Kandidatin A024 und ihr Modelcastingmotto: "Es wird kommen, wie es kommen wird", sagt Kandidatin A024 und liegt damit eigentlich knapp richtig. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommen wird, wie es kommen wird, ist doch recht groß. Denn erstens kommt es bekanntlich anders und zweitens als es gekommen ist. Aber A024 hat in diesem Fall Glück, denn es ist tatsächlich so gekommen, wie es gekommen ist.

Gekommen ist auch Kandidat A004 und zwar mit seiner ganz eigenen Motivation. Er freut sich nämlich nicht nur aufs Modeln, sondern auch "Heidi mein Pferdegeräusch zu zeigen." "Wollen wir hören?", fragt Klum nach Kenntnisnahme von A004s Talent und will außerdem wissen: "Wann braucht man so was mal?" Die Antwort: In TV-Shows, wenn die Spannung mal ein bisschen ein Hängerchen hat, weil ein Modelcasting doch langweiliger ist, als man das gerne hätte. Und so freuen wir uns einfach, wenn A004 in einer Berliner Industriehalle steht und Heidi Klum anwiehert.

Zufluchtsort GNTM?

Aber es gibt Kandidatinnen und Kandidaten, die bringen einen vernünftigen Grund mit zum Casting. Zum Beispiel Kandidatin A035. Die sei in der Vergangenheit von ihrem Bekanntenkreis immer klein gehalten worden und sagt nun: "Ich arbeite schon seit Jahren darauf hin, meinen Charakter zu entwickeln." Aus ähnlichen Schmerzerfahrungen heraus hat es Kandidat B015 zu GNTM getrieben. Er verwandele sich trotz aller Schwierigkeiten im konservativen Niederbayern gerne in eine Dragqueen und wolle sich nun "als Person im öffentlichen Leben zeigen" und hinterlegen, "dass er auch eine Stimme hat".

Wenn man diese Gründe so hört, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich im Laufe der Jahre tatsächlich etwas bei "Germany's Next Topmodel" getan hat. Nicht unbedingt, weil es bei ProSieben oder bei Heidi Klum ein Umdenken gegeben hätte, sondern bei den Kandidatinnen – und nun auch Kandidaten.

Nämlich, dass man nicht mehr unbedingt teilnimmt, um wie einst wie Claudia Schiffer aus der Wäsche zu winken oder wie Naomi Campbell vom Laufsteg zu grüßen, sondern weil diskriminierte Menschen GNTM zu einem Zufluchtsort für sich gemacht haben, wo sie gehört und gesehen werden. Wenn dem so ist, ginge das zwar am ursprünglichen Konzept der Show vorbei, wäre dann aber in der Tat ein echter Fortschritt.

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