• Heidi Kastner ist Psychiaterin, Gerichtsgutachterin und Autorin. In ihrem jüngsten Buch "Dummheit" beschäftigt sie sich mit dem Thema und den Auswirkungen von dummen Entscheidungen auf die Gesellschaft.
  • Im Interview mit unserer Redaktion nennt die Österreicherin historische Beispiele für dumme Entscheidungen und erklärt, wie man sich selbst vor Dummheit schützen kann.
  • Kastner spricht auch darüber, welche Rolle die Medien und die sozialen Medien beim Thema Dummheit spielen.
Ein Interview

Heidi Kastner, in Ihrem Buch beschreiben Sie, dass sich Intelligenz und Dummheit nicht ausschließen müssen. Was genau ist also Dummheit?

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Heidi Kastner: Dummheit ist weniger eine Persönlichkeitseigenschaft als ein Verhalten, das sich in bestimmten Handlungen manifestiert. Wobei bei manchen Menschen solche dummen Handlungen häufiger vorkommen als bei anderen. Dummheit kann auf einer situativ veränderbaren Haltung beruhen. Dass man eher dem Gefühlten als dem Erkennbaren nachgeht, Entscheidungen ohne ausreichende Informationen als Entscheidungsgrundlage trifft.

Wenn man das langfristige Schädigungspotenzial für sich oder andere nicht bedenkt oder ausblendet. Wenn man generell allen Fakten misstraut, ist das dann schon das fortgeschrittenere Stadium. Dann wird es doch schon eher eine Persönlichkeitseigenschaft. Es ist ein Verhalten, das prinzipiell sehr viel Schädigungspotenzial beinhaltet und das man immer wieder antrifft. Und es führt immer wieder zu Erstaunen.

Wie gefährlich ist Dummheit für unsere Gesellschaft?

Ziemlich. Es hängt natürlich davon ab, wer solche dummen Entscheidungen trifft. Wenn das Menschen sind, die in entscheidenden Positionen sitzen, kann es für sehr viele Menschen sehr schädlich sein. Wenn es Menschen sind, die für sich in einem bestimmten Sachverhalt entscheiden, kann es sie selbst schädigen und andere natürlich auch. Es ist dumm, wenn man mit unpassender Geschwindigkeit unterwegs ist, obwohl man weiß, dass das die Unfallwahrscheinlichkeit erhöht. Prinzipiell ist Dummheit nichts, was langfristig von Vorteil ist.

Können Sie ein historisches Beispiel für eine dumme Entscheidung nennen?

Das ist schwierig, denn es gibt sehr viele. Die Demokraten haben vor der US-Wahl 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump die Schlagkraft des Trump'schen Populismus unterschätzt. Sie haben nicht auf der Ebene reagiert, auf der Trump seine Wähler abgeholt hat. Man könnte aber auch das Münchner Abkommen des britischen Premierministers Neville Chamberlain aus dem Jahr 1938 als dumme Entscheidung ansehen.

Chamberlain hat sehr nachsichtig und vorsichtig verhandelt und damit mehr oder weniger den Weg frei gemacht für die katastrophale Politik Adolf Hitlers. Er hat sein Gegenüber einfach nicht erkannt. Oder sich geweigert, die damals schon erkennbaren und potenziell bedrohlichen Eigenschaften Hitlers anzuerkennen und richtig einzuschätzen. Und dann mit der gebotenen Klarheit Grenzen zu ziehen. Seine Nachgiebigkeit hat bekanntermaßen nicht dazu geführt, dass der Zweite Weltkrieg verhindert wurde. Sondern eher dazu, dass seine Nachgiebigkeit von Hitler als Freibrief und Schwäche verstanden wurde.

Donald Trump wurde trotz zahlreicher Lügen, rassistischer Äußerungen und Unwissenheit über Geschichte und Geografie zum Präsidenten der USA gewählt. Ist das ein Beispiel für intelligentes Verhalten oder für Dummheit?

Beides. Er war in der Lage, die Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung wahrzunehmen. Und darauf mit einem – natürlich hohlen – Heilsversprechen zu reagieren. Der American Dream, der besagt, dass man alles schaffen kann, wenn man sich anstrengt, ist schon lange nicht mehr wahr. Manche strengen sich über ihre Verhältnisse an und leben trotzdem in prekären Verhältnissen. Dieses Scheitern hat große Teile der Bevölkerung massiv desillusioniert und zu einer Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen geführt. Das hat Trump wahrgenommen und ist als Messias aufgetreten. Der Slogan "Make America Great Again" war nicht wirklich eine grandiose Leistung, aber hat auf das Unzufriedenheits- und Protestpotenzial abgezielt.

Er hat sich dann hingestellt wie der Rattenfänger von Hameln und gesagt: "Wenn ihr mir folgt, werde ich das alles lösen." Was natürlich nicht funktionieren kann. Es ist immer die Strategie aller Populisten, simple Lösungen für komplexe Probleme anzubieten. Leute, die schon länger unter solchen Problemen leiden, haben eine erhöhte Neigung, solchen Menschen auf den Leim zu gehen. Die Entscheidungen, die Trump als Präsident getroffen hat, waren dann teilweise dumm. Wenn man zum Beispiel die langfristigen Auswirkungen auf den Klimaschutz betrachtet. Da ging es nur um Trumps kurzfristige und persönliche Ziele, wie etwa seine Popularität aufrechtzuerhalten. Oder seiner Spendenklientel dabei zu helfen, durch Ausbeutung von Ressourcen ihren Reichtum noch weiter zu vergrößern.

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Auch in Deutschland und Österreich ignoriert ein Teil der Menschen mit Blick auf die Corona-Pandemie und den Klimawandel wissenschaftliche Fakten und hängt populistischen Meinungen oder Verschwörungstheorien an. Ist das ein Beispiel für Dummheit? Oder vielleicht auch eine durch Angst bedingte Verweigerung der Realität?

Das geht Hand in Hand. Dummheit ist immer dann sehr nahe, wenn man eher den eigenen Emotionen nachrennt, als auf Fakten zu hören. Fakten können manchmal unbequem sein. Und das ist unattraktiv. Dann bleibt man lieber beim Gefühlten und ignoriert die Fakten. Das hat in den letzten Jahren einen richtigen Aufschwung bekommen, mit diesem absoluten Unwort des postfaktischen Zeitalters. Was soll das überhaupt sein?

Angela Merkel hat mal beschrieben, dass postfaktisch wahrscheinlich bedeute, dass die Menschen eher ihren Gefühlen als den Tatsachen nachgehen würden. Aber im Mittelalter hat das zu Hexenverbrennungen und Judenpogromen geführt. Die Pest-Epidemie hat sieben Jahre gewütet. Die Menschen konnten sich diese Bedrohung nicht erklären. Also wurde nach einfachen, knackigen Erklärungen gesucht. Und diese wurden in den 'brunnenvergiftenden Juden' gefunden. Das war eine gefühlte Erklärung, weil man keine andere hatte. Gefühlte Erklärungen führen aber nicht zu sinnvollen Lösungen.

Haben Sie das Gefühl, dass Dummheit in den letzten Jahren zugenommen hat oder entsteht dieser Eindruck durch die sozialen Medien?

Die Dummheit hat nicht zugenommen, sie ist ein stabiler und beachtenswerter Bestandteil der Conditio Humana. Man sollte mit ihr rechnen. Das nicht zu tun, wäre auch dumm. Ich glaube aber, dass die Dummheit aufgehört hat, sich zu schämen. Es ist salonfähig geworden, dumme Positionen lauthals herauszutröten. Man kann sich ziemlich sicher sein, dass man für jede noch so unsägliche Position irgendwelche Mitstreiter findet. Und in der Gruppe ist man dann stark und hat auf jeden Fall recht. Denn wenn viele glauben, was ich glaube, kann ich nicht falsch liegen. Es ist auf jeden Fall wesentlich angenehmer, in einer Gruppe Blödsinn zu schreien, als es allein zu tun. Die Möglichkeiten, Dummheit wahrzunehmen, haben sich vermehrt.

Warum?

Zum einen, weil es über die sozialen Medien möglich ist, sich weltweit zu vernetzen. Zum anderen, weil es kaum mehr ein Korrektiv gibt. Und weil die Politik immer zögerlicher wird, sich von solchen Positionen klar abzugrenzen. Dabei kommen dann die wohlgemeinten, aber im Ergebnis fatalen Bestrebungen heraus, den Dialog mit allen offenzuhalten und jede Meinung wertzuschätzen. Ich habe kürzlich eine Mail bekommen, in der ernsthaft formuliert wurde: Man muss jede Meinung akzeptieren. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, dass jede rassistische, rechtsradikale Position akzeptiert und respektiert werden muss. Das kann es ja nicht sein, das kündigt irgendwann den Gesellschaftsvertrag.

Warum sind anscheinend gerade Menschen, die wissenschaftliche Fakten ignorieren, so laut und haben ein so großes Mitteilungsbedürfnis?

Es gibt einen Aphorismus von Stanislaw Jerzy Lec: "Analphabeten müssen diktieren". Und diktieren muss man nun mal laut. Die, die am wenigsten wissen, müssen am lautesten schreien. Die Informierten wissen über die Begrenztheit ihres Wissens Bescheid und sind daher zögerlicher, für sich die absolute Wahrheit zu beanspruchen. Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich auch, was ich nicht weiß. Je mehr ich weiß, desto unsicherer werde ich und desto zurückhaltender im Formulieren absoluter Positionen. Diese Zurückhaltung macht mich wahrscheinlich leiser. Wenn ich hingegen wenig weiß, weiß ich auch nicht, was ich alles nicht weiß und kann mit absoluter Gewissheit laut schreien.

Die andere Seite ist, dass die Medien nur bedingt der Volksbildung dienen (lacht). Medien sind wirtschaftliche Einheiten, die natürlich auch ihren eigenen Erhalt sichern müssen. Wenn Wissenschaftler eine Position vertreten, aber bei Erkenntnisgewinn auch noch eine Veränderung der Position für möglich halten, ist das eine Information, aber keine Schlagzeile. Im Gegensatz zu: "40.000 Demonstranten protestieren gegen die Diktatur". Dazu hat man knackige Bilder, mit Menschen, die durch die Gegend marschieren, die Schilder schwenken und vielleicht Stierhörner auf dem Kopf tragen. Das gibt optisch mehr her. Ich glaube, der wahrscheinlich prozentual einstellige Anteil der völlig Verrannten bekommt eine unproportional hohe mediale Coverage.

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Sind ständige Selbstreflektion und lebenslanger Lernwille die beiden wichtigsten Fähigkeiten, um sich selbst vor Dummheit und dummen Entscheidungen zu schützen?

Absolut. Es ist ein sehr guter Schutz, wenn man aus Erfahrungen lernen kann. Und das kann man nur, wenn man sich gelegentlich hinsetzt und über seine vergangenen Entscheidungen nachdenkt und diese bewertet. Nur wenn man das eigene Verhalten und die Entscheidungsfindung überdenkt, kann man einen Lerneffekt daraus ziehen. Im Sinne von: Das war unklug, das sollte man nicht wiederholen. Man muss anerkennen, dass nicht alles, was man für unumstößlich richtig gehalten hat, auch unumstößlich richtig ist. Es ist ein Merkmal der Wissenschaft, dass der Erkenntnisgewinn fortschreitet. Dinge, die einmal geglaubt wurden, können sich durch neue Erkenntnisse relativieren. Wissenschaft ist kaum je völlig absolut. Das sollte man irgendwann begreifen.

Was war Ihr Antrieb, ein Buch zum Thema Dummheit zu schreiben?

Die 50-jährige Begegnung damit. Im Wesentlichen das wiederholte Erleben von Situationen, die mich sprachlos gemacht haben. Wenn durchaus intelligente Menschen mit ausreichend Bildung dastehen und Entscheidungen treffen, die man nur als dumm bezeichnen kann. Und wenn man dann erlebt, dass faktische Argumentation nichts an dieser Positionierung ändert, fragt man sich, wie das sein kann. Deshalb habe ich vor Jahren beschlossen, ein Buch über Dummheit zu schreiben. Das ist ja immer auch ein Lerneffekt für den, der schreibt. Wenn man ein Buch schreibt, setzt man sich mit Dingen auseinander, schaut genauer hin und denkt gründlicher darüber nach.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch?

Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Mich hat einigermaßen verblüfft, wie sehr das Buch wahrgenommen wurde. Es ist am 14. Oktober erschienen und war nach 14 Tagen ausverkauft. Jetzt sind wir in der neunten Auflage. Es hat offenbar einen Nerv getroffen und viele angesprochen. Ich habe auch so viele unmittelbare Reaktionen bekommen wie auf keines meiner vorherigen Bücher. Leute haben sich hingesetzt und meine Mail-Adresse von der Klinik herausgefunden, um mir zu schreiben.

Dabei gab es nur zwei Arten von Mails. In den positiven Mails stand in etwa: "Super, endlich bringt jemand auf den Punkt, was ich schon beobachtet habe und nicht erklären konnte." Das war der überwiegende Teil, etwa 70 Prozent. Die ablehnenden Mails haben das Buch alle als populistisch, fragwürdig und völlig verfehlt bezeichnet. Gemein hatten diese Mails auch, dass das Ganze offenbar sehr fokussiert auf das Thema Corona betrachtet wurde. Was das Buch ja nicht tut. Es ist der Versuch einer allgemeinen Beschreibung des Phänomens. Corona ist nur ein Beispiel von mehreren, das sich aktuell natürlich anbietet.

Die Expertin: Dr. Heidi Kastner ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Seit 1997 ist sie Gerichtspsychiaterin und war unter anderem Gutachterin im "Fall Fritzl". Ihr Buch "Dummheit" ist im Oktober im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.
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