Der Islamische Staat (IS) verbreitet mittlerweile auch in Libyen Angst und Schrecken: Am Wochenende wurden dort 21 christliche Kopten aus Ägypten hingerichtet. Zudem droht der IS Europa von Libyen aus ins Visier zu nehmen. Kurz darauf forderte die libysche Regierung militärische Unterstützung, um gegen die Terrormiliz vorzugehen. Warum Waffenlieferungen in das Krisenland wenig bringen werden, wie gefährlich der dortige Vormarsch des IS für Europa ist und wie dieser gestoppt werden könnte, beantwortet Libyen-Experte Andreas Dittmann im Interview.

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Herr Dittmann, Libyen gilt mittlerweile als Failed State, als gescheiterter Staat. Wo verlaufen dort die Konfliktlinien?

Prof. Dr. Andreas Dittmann: Die Konfliktlinien in Libyen sind so vielfältig, dass man das fast unter dem Stichwort "Jeder gegen Jeden" zusammenfassen könnte. Die Konfliktlinien sind im Vergleich zu Syrien viel komplexer. Dort haben wir am Ende drei große Konfliktparteien, nämlich die syrische Regierung, die Freie Syrische Armee und den Islamischen Staat (IS.) In Libyen gibt es zunächst einmal den zweifelhaften Luxus von zwei Regierungen, die vom Westen anerkannte, die wegen der anhaltenden Kämpfe bereits aus Tripolis geflohen ist und nun im Osten von Libyen in der Stadt Tobruk nahe der ägyptischen Grenze sitzt. Diese Regierung ist froh über jeden Tag, die sie noch überlebt. In Tripolis hat sich mittlerweile eine zweite Regierung etabliert, die aus islamischen Kräften besteht. Die darf man nicht mit Islamisten oder gar dem IS gleichsetzen. Und dann gibt es unzählige Milizen, die sich hier unmittelbar nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi schwer bewaffnet haben.

Welche sind das?

Da gibt es säkular eingestellte Milizen, die man zwar nicht als prowestlich bezeichnet sollte, aber in diese Richtung tendieren. Zudem kämpfen dort islamische Milizen, die aber nicht islamistisch sind. Dann gibt es islamistische Milizen, die auch starke terroristische Tendenzen haben, wie Al-Kaida-Gruppen, die schon ziemlich lange dort aktiv sind und zu Al Kaida im islamischen Maghreb gehören. Die werden aber wiederum von den viel jüngeren und ihrer Ansicht nach aktiveren IS-Kämpfern bekämpft.

Warum kämpfen Al Kaida und der IS in Libyen gegeneinander?

Der IS wirft Al Kaida vor, sie hätte während der Rebellionen und dem Arabischen Frühling nichts dazu beigetragen, die Herrscher dort zu stürzen. Der IS geht davon aus, dass es eine aktivere Rolle braucht. Zwischen den terroristischen Organisationen ist es zugleich ein Kampf zwischen Jung und Alt; also zwischen jüngeren, aktiveren und brutaleren IS-Kämpfern und in ihren Augen älteren, eingeschlafenen Al-Kaida-Kämpfern.

Welche Möglichkeit hat der Westen, um in Libyen noch einzugreifen?

Zum Eingreifen ist es in Libyen eigentlich schon zu spät. Der Westen hatte seine Chance, hat auch vorgegeben, Libyen helfen zu wollen. Vor allem während der Rebellion wurde vorgetragen, die Revolutionäre unterstützen zu wollen, dass Gaddafi gestürzt und Demokratie exportiert werden müsste. Das war aber wohl höchstens die halbe Wahrheit. Damals galt der Blick wesentlich dem libyschen Öl. Es ist nun ein Unglück der Geschichte, dass zum gleichen Zeitpunkt, als die Rebellion in Libyen begonnen hat – und die ja auch gelang, insofern Gaddafi gestürzt und sein Regime ersetzt wurde –, das dortige Erdöl nicht mehr so notwendig war. Man hat etwa zur gleichen Zeit das Erdöl-Embargo gegen den Iran aufgehoben, der das nun vor allem auf dem ostasiatischen Markt wieder verkaufen darf. Gleichzeitig sprudelten auch im südlichen Afrika vor den Küsten Angolas die Erdölquellen erstmals. All das hat dazu geführt, dass es auf dem Weltmarkt zu viel Erdöl gab – für uns attraktiv, weil die Preise an den Tankstellen gesunken sind.

Für Libyen aber schlecht.

Ja. Die Unterstützung für Libyen, um das umzusetzen, was postrevolutionär nötig gewesen wäre, hat schlicht gefehlt. Die alte These, dass es weniger um eine Demokratisierung ging, sondern vorwiegend um Öl, bestätigt sich im Nachhinein nun natürlich. Libyen wurde am Ende einfach sich selbst überlassen – und das ist gründlich schief gelaufen. Es gab Chancen und die hätten mit Hilfe des Westens zumindest ansatzweise gut bewältigt werden können. Unmittelbar nach dem Sturz Gaddafis hätten die Milizen umfassend entwaffnet werden, hat man aber verpennt. Die Folge war, dass die Warlords weiter ihre Macht ausspielen konnten. Libyen wurde erst zu einem schwachen Staat, dann zu einem Failing State und mittlerweile zu einem Failed State, zu einem gescheiterten Staat.

Jordanien als einziges islamisches Land im UN-Weltsicherheitsrat fordert nun ein Ende des Waffenembargos für Libyen, um die auch vom Westen anerkannte Regierung im Kampf gegen den IS zu stützen. Gäbe es dadurch Erfolgsaussichten?

Wenn Libyen an drei Sachen genug hat, sind das: Sand, Erdöl und Waffen. Selbst wenn man Waffen nach Libyen liefert, gibt es überhaupt keine Kontrolle, in wessen Hände die dann am Ende fallen. Libyen ist das am besten mit beispielsweise Kleinwaffen ausgerüstete Land in Nordafrika, da ist jeder Zivilist gnadenlos überbewaffnet. Das Problem ist also nicht zu wenige, sondern zu viele Waffen – und die sind dann größtenteils auch noch in den falschen Händen.

Zuletzt hat der IS in dem Video, das auch die Hinrichtung der 21 christlichen Kopten zeigt, davon gesprochen, im Süden Roms zu stehen und damit eine Drohung an Europa ausgesprochen. Wie gefährdet ist Europa?

Die akuteste Gefahr ist zunächst einmal die Destabilisierung der Nachbarländer. Ägypten kann sich da noch einigermaßen selbst wehren. So scheint es im Moment zumindest. Aber ganz massiv ist die Gefahr für Tunesien, dass es früher oder später ebenfalls von den Islamisten infiltriert wird. Beim IS in Libyen kämpfen längst nicht nur mehr Libyer, sondern eben auch Tunesier, Jemeniten oder Pakistanis. Über solche im Kampf in Libyen geschulte Personen, werden Revolutionen dann natürlich auch leichter exportierbar.

Der IS droht zudem damit, Europa von Libyen aus mit Flüchtlingen zu überschwemmen und spricht hier von bis zu 500.000 Menschen, die über das Mittelmeer geschickt werden sollen. Ist so ein Szenario realistisch?

Der IS hat längst kapiert, dass wir Europäer davor eine riesige Angst haben und schlachten das für ihre Propaganda gnadenlos aus. Es ist propagandistischer Unsinn, dass der IS Europa erobern könnte. Aber allein der Anspruch, dass es nicht nur um Terror in den Ursprungsländern und die Machtübernahme dort in Form von Kalifaten geht, sondern dass man darüber hinaus einen weltweiten Herrschaftsanspruch verkündet, ist das gefährliche.

Welche Möglichkeiten gibt es, Libyen aus der gescheiterten Existenz herauszuholen?

Erst einmal: Wegschauen und Abwarten hilft nicht, das spielt Organisationen wie dem IS in die Hände. Das zeigt das Beispiel in Afghanistan, wo sich nach der Vertreibung der Sowjets in den 1980er- Jahren das Taliban-Regime etabliert hat. Das zeigt das Beispiel Irak, wo nach dem Sturz von Saddam Hussein und nach dem Abzug der USA ebenfalls ein schwacher Staat entstanden ist. Das gleiche gilt für Libyen. Am Ende sind einerseits die Regionalmächte gefordert, die militärisch eingreifen können und müssen, wie es Ägypten ja jetzt auch tut. Das löst aber natürlich das eigentliche Problem nicht. Deswegen braucht es am Ende politische Lösungen.

Das heißt?

Dem IS muss die Lebensader entzogen werden. Da geht es vor allem um die finanzielle Unterstützung. Da steht dann beispielsweise die Türkei im Rampenlicht, denn über die Türkei verkauft der IS erhebliche Mengen an Erdöl. Das geht aktuell nur über die Türkei, um das deutlich zu sagen. Und da geht es nicht nur um ein paar Fässer, sondern um ganze Tanker-Füllungen, die auf den Weltmarkt kommen. Da ist der Bündnispartner Türkei gefragt. Zudem müssen die direkten Geldflüsse aus den arabischen Golfstaaten – aus Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten – zu unterbinden. Das dürfte noch etwas schwieriger sein, weil es nicht von den Regierungen kommt – zumindest offiziell -, sondern von reichen Privatpersonen. Wenn man diese Ströme stoppen kann, wäre viel mehr gelöst als durch alle Militärschläge der Welt. Und da sind die westlichen Regierungen gefordert, um beide Punkte bei den Verbündeten einzufordern.

Andreas Dittmann ist Professor für Anthropogeographie am Institut für Geographie der Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört unter anderem die geographische Konfliktforschung im islamischen Orient und Afrika südlich der Sahara.
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