• Ohne eine Corona-Impfpflicht könne die Gesellschaft im nächsten Herbst und Winter nicht alle Menschen schützen, sagt die Parlamentarierin Rasha Nasr (SPD).
  • Eine so große Grundrechtseinschränkung sei in der aktuellen Lage nicht angebracht, findet ihr Kollege Maximilian Funke-Kaiser (FDP).
  • Im Interview mit unserer Redaktion diskutieren die jungen Abgeordneten über das Für und Wider einer Impfpflicht – und finden auch Punkte, in denen sie sich einig sind.
Ein Interview

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Mehr aktuelle News

Frau Nasr, Herr Funke-Kaiser, wahrscheinlich wird der Bundestag demnächst über die Einführung einer Corona-Impfpflicht entscheiden. Wissen Sie schon, wie Sie abstimmen werden?

Rasha Nasr: Ich bin zu 98 Prozent sicher, dass ich für eine allgemeine Impfpflicht stimmen werde.

Maximilian Funke-Kaiser: Bei mir ist es ein ähnlicher Prozentsatz. Ich würde sogar auf 99 Prozent gehen, dass ich gegen eine Impfpflicht stimme. Ich bin jetzt auch Mitantragsteller des Antrags von Wolfgang Kubicki und anderen.

Warum sind Sie dagegen?

Funke-Kaiser: Bei der Delta-Variante hatten wir noch eine sehr hohe Intensität der Krankheit, was bei Omikron nicht mehr der Fall ist. Wir wissen auch noch nicht, wie viele Folgeimpfungen notwendig sind, um zu einer nachhaltigen Immunität zu kommen. Solange wir das nicht wissen, kann die Politik meiner Meinung nach keine Impfpflicht einführen, die so eine große Grundrechtseinschränkung bedeutet. Deswegen sage ich: Wir müssen noch viel mehr freiwillige Angebote schaffen, um die Impfquote zu erhöhen. Da haben wir noch nicht alles ausgeschöpft.

Wie könnten diese Angebote aussehen?

Funke-Kaiser: Wir sollten jeder Bürgerin, jedem Bürger nochmal das Angebot eines digitalen Aufklärungsgesprächs machen. Es ist wichtig, Ängste zu nehmen. Viele bilden sich immer noch ihre Meinung auf Basis von Fake News.

Nasr: Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Wir brauchen aufsuchende Angebote, auch in den Sprachen, die die jeweiligen Menschen sprechen. Trotzdem sehe ich, dass wir ohne die Impfpflicht in eine Situation laufen, in der wir nicht alle schützen können. Die Impfpflicht würde jetzt nicht mehr greifen. Es geht um den nächsten Herbst und Winter. Die Wissenschaft sagt, dass wir dann vielleicht wieder eine neue Mutation haben. Eine Grundimmunisierung mit drei Impfungen trägt dazu bei, sich vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Im dritten Jahr der Pandemie sehe ich das nicht mehr als persönliche Entscheidung, weil ich einen anderen Freiheitsbegriff habe.

Rasha Nasr: "Es geht darum, die eigene Freiheit ein Stück zurückzustellen, damit wir alle als Kollektiv wieder Freiheit erlangen"

Wie verstehen Sie Freiheit in diesem Zusammenhang?

Nasr: Wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir die Gesellschaft schützen können. Das bedeutet, dass meine persönliche Freiheit die Freiheit anderer Menschen beschneidet – und das ist ein großes Problem. Es geht darum, die eigene Freiheit ein Stück zurückzustellen, damit wir alle als Kollektiv wieder Freiheit erlangen. Es gibt Menschen, die seit Beginn der Pandemie ihr Zuhause nicht mehr verlassen haben, weil sie vorerkrankt sind, weil sie darauf angewiesen sind, dass Menschen um sie herum geimpft sind. Wer spricht denn über diese Menschen und deren Freiheitsrechte?

Funke-Kaiser: Ich bin absolut dabei, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des anderen eingeschränkt wird. Die Corona-Impfung bedeutet aber einen Selbstschutz, keinen Fremdschutz. Wir haben keinen Impfstoff, der die Weiterverbreitung zu 99 Prozent verhindern würde. Mir ist auch wichtig: Die Ständige Impfkommission hat jetzt gesagt, dass eine vierte Impfung für vulnerable Gruppen durchaus sinnvoll ist. Ich würde mich auch noch einmal boostern lassen. Wir wissen noch nicht, wie viele Impfungen wir brauchen werden. Die Omikron-Variante hat eine höhere Infektionsrate, aber eine geringere Intensität. Man kann davon ausgehen, dass sich das Virus weiter in diese Richtung entwickelt und wir uns in eine endemische Lage bewegen.

Beide hoffen auf zusätzliche Impfungen durch Novavax

Wie sehen Sie das, Frau Nasr? Wäre eine Impfpflicht verhältnismäßig?

Nasr: Ich bin der Überzeugung: Wenn ich selbst geimpft und geboostert bin, stecke ich weniger Leute an. Wenn viele Menschen geimpft sind, grassiert das Virus weniger und wir belasten nicht mehr das Gesundheitssystem. Ich habe mich auch gewundert, warum im letzten Jahr an dem Satz festgehalten wurde: Es wird keine Impfpflicht geben. Ich habe mich damals schon gefragt, ob das so klug ist. Wir haben da schon nicht gewusst, wie sich das Virus weiterentwickelt. Was machen wir denn, wenn wir eine neue, gefährlichere Variante bekommen? Dass wir alles so laufen lassen sollten, auf eine Durchseuchung und eine endemische Lage hoffen, sehe ich einfach nicht. Ich will nicht riskieren, dass viele Menschen krank werden.

Funke-Kaiser: Wir sehen ja gerade, dass immer mehr Menschen erkranken. Für mich ist aber der ausschlaggebende Punkt, dass die Intensivbettenbelegung sinkt. Wir haben in Bayern eine konstante Belegung der Intensivbetten trotz steigender Inzidenzen. Ich glaube auch, dass wir durch die Neuzulassung von Novavax noch einmal eine neue Situation bekommen. Viele Impfverweigerer sagen, dass sie gewisse Vorurteile gegenüber mRNA-Impfstoffen haben, sich aber mit Novavax impfen lassen würde. Ich habe die Hoffnung, dass wir so auf eine Impfquote von über 80 Prozent kommen.

Nasr: Auch bei mir in Sachsen sind viele Menschen skeptisch, und auch ich hoffe auf Novavax. Ich habe in persönlichen Gesprächen aber auch erlebt: Viele warten nur darauf, endlich eine Entschuldigung zu haben, sich impfen zu lassen. Viele trauen sich nicht mehr, sich impfen zu lassen, weil sie dann von Familie, Freunden, im Beruf geächtet werden. Das erleben wir auch.

In Sachsen ist die Impfquote geringer als in anderen Ländern. Aber würde eine Impfpflicht nicht das Risiko erhöhen, dass sich einzelne militante Impfgegner mit Gewalt gegen den Staat zur Wehr setzen?

Nasr: Selbstverständlich. Man muss darauf schauen, dass sich Menschen bemüßigt fühlen könnten, den Aufstand gegen das System zu eröffnen. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir als Demokratie wehrhaft und standhaft sein müssen. Wenn sich das oberste Parlament des Landes entscheidet, eine Impfpflicht einzuführen, muss das Land auch in der Lage sein, sie durchzusetzen. Wir dürfen nicht aus Angst vor kleinen zerstörerischen Kräften Schritte unterlassen, die wir notwendig finden.

Maximilian Funke-Kaiser: "Bei der zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten habe ich als Freidemokrat Bauchschmerzen"

Es liegt auch ein dritter Vorschlag auf dem Tisch: eine Impfpflicht nur für Menschen über 50. Wäre das ein Kompromiss, dem Sie zustimmen würden?

Funke-Kaiser: Ich habe mich dagegen ausgesprochen. Bei den Personen über 50 ist die Impfquote schon hoch und wird durch Novavax wahrscheinlich noch weiter steigen. Mir ist wichtig, dass wir Angebote schaffen, damit sich Menschen aufklären lassen. Ich habe das auch in den Antrag gegen die Impfpflicht aufnehmen lassen. Wie bei der Impfpflicht ab 18 bleibt auch bei der Impfpflicht ab 50 die Frage: Wie setzen wir sie um? Dazu müsste man ein Impfregister einführen. Bei der zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten habe ich als Freidemokrat Bauchschmerzen.

Nasr: Ich halte die Grenze ab 50 für ziemlich willkürlich gewählt. Die Beratungsgespräche sind bestimmt eine gute Idee. Ich bin immer Fan von Aufklärung. Natürlich müssen wir schauen, wie man die Impfpflicht umsetzt. Ich mache da auch noch Fragezeichen. Trotzdem komme ich am Ende der Abwägung zu dem Schluss, dass ich für die allgemeine Impfpflicht bin.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Die Impfpflicht ist für viele Menschen ein sehr emotionales Thema. Wie erleben Sie die Diskussionen innerhalb des Bundestags?

Nasr: Ich erlebe sie als sehr sachlich. Ich hätte das anders erwartet. In der ersten Debatte im Plenarsaal hat man gemerkt, dass manche Reden andere aufgewiegelt haben. Wir streiten uns aber nicht und greifen uns nicht an. Das ist nicht die Kultur, die wir miteinander pflegen.

Funke-Kaiser: Dem kann ich nur zustimmen. Das ist auch der Stil der Ampel-Koalition: dass wir hart in der Sache diskutieren, aber fair im Umgang bleiben.

Frau Nasr, angenommen, die Impfpflicht kommt nicht – steuert das Land dann auf eine Katastrophe zu?

Nasr: Nein, das würde es nicht. Ich würde die Entscheidung natürlich akzeptieren und meinen Beitrag dazu leisten, dass wir noch mehr Menschen erreichen und sie impfen können.

Herr Funke-Kaiser, angenommen, die allgemeine Impfpflicht kommt – ist dann die Freiheit in Deutschland in Gefahr?

Funke-Kaiser: Nein. Es gibt auf beiden Seiten valide Argumente. Auch ich bin Demokrat und würde die Entscheidung akzeptieren – und meinen Teil dazu beitragen, dass wir auch in Zukunft als Gesellschaft zusammenstehen.

Über die Personen:
Rasha Nasr wurde 1992 in Dresden geboren und ist im Landkreis Meißen aufgewachsen. Ihre Eltern, Architekten aus Syrien, waren schon zu DDR-Zeiten in die Region gezogen. Sie hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert und unter anderem als Integrationsbeauftragte der Stadt Freiberg gearbeitet. Seit der vergangenen Wahl sitzt sie für die SPD im Bundestag und ist dort Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Maximilian Funke-Kaiser wurde 1993 in Augsburg geboren. Er hat Betriebswirtschaftslehre studiert und danach zwei eigene Firmen gegründet. Nachdem die FDP aus dem bayerischen Landtag und dem Bundestag geflogen war, beschloss er, beim „Wiederaufbau“ zu helfen. Als Spitzenkandidat der Jungen Liberalen in Bayern wurde er 2021 in den Bundestag gewählt, wo er Mitglied der Ausschüsse für Digitales und für Gesundheit ist.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.