Kinder werden von der Polizei aus der Schule geholt und abgeschoben, die Bundesregierung fliegt Afghanen in ein Land aus, in dem de facto Krieg herrscht: Die Abschiebungspraxis in Deutschland steht in der Kritik. Ein Rechtsanwalt erklärt, warum er die Verfahrensweise bei Abschiebungen unfair und unlogisch findet.
Erst kam die Polizei, dann der Seelsorger: In Duisburg holten am Montag Beamte eine 14-jährige Duisburgerin aus dem Klassenzimmer. Sie wird zusammen mit ihren Eltern abgeschoben, die Ende der 90er-Jahre aus Nepal nach Deutschland kamen.
Da war Bivsi R. noch nicht einmal geboren. Ihre Mitschüler reagieren geschockt, der Lehrer ruft einen Notarzt und einen Pfarrer herbei.
So sieht die Härte aus, die Innenminister Thomas de Maizère immer wieder beim Vollzug von Abschiebungen fordert. Rechtlich ist in Duisburg alles korrekt abgelaufen.
Die Zahl der "Rückführungen", so heißt es im Amtsdeutsch, steigt seit einigen Jahren stark an, 2016 hat Deutschland rund 25.000 Menschen abgeschoben, so viele wie seit 2003 nicht mehr. Doch Fälle wie der von Bivsi R. oder des 20-Jährigen Afghanen, dessen Abschiebung hunderte Mitschüler in Nürnberg verhindern wollten, lassen Kritik aufkommen.
Thomas Oberhäuser arbeitet als Rechtsanwalt in Ulm. Er ist Asylexperte des Deutschen Anwaltvereins und erklärt im Interview, warum er die Verfahrensweise bei Abschiebungen unfair und unlogisch findet.
In Afghanistan wurden 2016 11.500 Zivilisten verwundet oder getötet. Die Bundesregierung hat bislang Teile des Landes als "konstant ausreichend sicher" bezeichnet – darunter die Hauptstadt Kabul, wo ein verheerender Anschlag auch die Deutsche Botschaft getroffen hat. Ist eine Abschiebung nach Afghanistan wirklich zumutbar?
Thomas Oberhäuser: "Wenn man selber davon nicht betroffen ist, lässt sich das sicher so sagen, ja. Aber eigentlich müsste man sich immer die Frage stellen: Würde ich selber da hingehen?
Der CDU-Mann Armin Schuster hat gerade gesagt, Anschläge passieren weltweit, nicht nur in Afghanistan, deswegen könne man weiter dorthin abschieben. Eine typische Aussage aus dieser politischen Richtung, und letztlich ist es egal, welche Argumente man da findet – ob es zumutbar ist oder nicht, bleibt eine politische Entscheidung."
Dafür muss es doch nachprüfbare Kriterien geben.
"Die gibt es natürlich. Das Auswärtige Amt hat seine Informationen, es gibt das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen, NGOs wie Amnesty International haben ihre Experten vor Ort – es gibt jede Menge Informationen, aus denen die Regierung sich ihre Wertung herausdestilliert."
Die Regierung hat nach dem Anschlag einen vorläufigen Abschiebestopp nach Afghanistan verhänt und will die Lage neu bewerten. Richtig?
"Das Bundesverfassungsgericht sagt: Die Sicherheitslage entwickelt sich ständig. Also muss die Regierung eigentlich jeden Tag ihre Bewertung aktualisieren. Aber das macht sie natürlich ungern, vor allem wenn das bedeutet, dass Abschiebungen gestoppt werden müssten.
Grundsätzlich dürfen auch Menschen, die nicht individuell verfolgt werden, nicht abgeschoben werden, wenn ihnen in ihrem Heimatland Gefahr für Leib und Leben droht. Die Gerichte sehen aber in der Regel die Gefahr, nach der Rückkehr nach Afghanistan Opfer einer Gewalttat zu werden, als nicht hoch genug an, um Abschiebungen grundsätzlich auszuschließen."
Das heißt, es muss abgeschoben werden?
"Wenn der Staat in einem aufwendigen Verfahren feststellt, dass es keinen Schutzgrund gibt und ein Asylbewerber ausreisen muss, darf er das grundsätzlich auch durchsetzen. Er muss die Glaubwürdigkeit des Rechtssystems sicherstellen.
Das klingt staatstragend, ist aber richtig. Jeder kann ja vor Gericht gegen Entscheidungen vorgehen, die ihn belasten, daher sind Abschiebungen keine Willkür. Jedenfalls theoretisch."
2015 hat Bremen jeden 113. Ausreisepflichtigen abgeschoben, Bayern jeden vierten. Das klingt, wenn nicht nach Willkür, dann doch nach Lotterie.
"Es gibt liberale Bundesländer, die die Entscheidung, dass ein Mensch ausreisen muss, nicht stets umsetzen. Bayern schon, das erscheint dann auch wie stringente Politik. Die Frage ist aber: Ist das wirklich ein logisches, ungebrochenes System?
Oft behaupten Politiker, wer ausreisepflichtig ist, müsse Deutschland verlassen. Dabei haben sie selbst Ausnahmen geschaffen, etwa für Menschen in einer Ausbildung. Das ist inkonsequent, zeigt aber: Man muss bei Abschiebungen viele Faktoren berücksichtigen. Bremen etwa tut das, die würdigen, was Menschen schon an Integrationsleistung vollbracht haben. Bayern eher nicht."
Bayern steht seit gestern wieder im Fokus: In Nürnberg haben Polizisten einen 20-jährigen afghanischen Flüchtling aus der Berufsschule geholt und in Abschiebungshaft verbracht, dabei setzten sie gegen protestierende Mitschüler Pfefferspray ein.
Es ist keine Lotterie, sondern Russisch Roulette, was Bayern da macht. Die Afghanen, die da gelandet sind, sind oft völlig von der Rolle. Alle haben Angst, abgeschoben zu werden. Und das ist ein Stück weit gewollt von der Politik.
Innenminister Thomas de Maizière hat ja gerade wieder erklärt, es gehe bei den Abschiebungen vor allem um Kriminelle. Wer bestimmt eigentlich, wer in einem Abschiebe-Flieger sitzt?
Wer da wie auf die Liste kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Da lassen sich die Behörden nicht in die Karten schauen.
Der 20-Jährige Berufsschüler in Nürnberg oder auch die 14-Jährige Schülerin, die von der Polizei aus einem Gymnasium in Duisburg geholt wurde: Sind das nicht klassische Fälle für die Härtefallkommission, die es in jedem Bundesland gibt?
Ja, aber die arbeiten nur auf Antrag. Und sie entscheiden dann je nach dem Erfolg bei der Integration: Hat der Betroffene einen Job, kann er gut Deutsch sprechen, hat er Freunde, die ein gutes Wort für ihn einlegen?
Im Fall der 14-Jährigen hat die Kommission sich gegen eine Aufhebung des Bescheids entschlossen. Aus Ihrer Sicht: Sind die Kommissionen ein gutes Werkzeug gegen die Härten für die Betroffenen?
Es ist eine gute Sache, dass es diese Kommissionen überhaupt gibt. Aber sie sind ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und es bleibt die Frage: Warum gibt es sie?
Erst wird geprüft, ob jemand das Recht hat, hier zu leben, und wenn nicht, dann machen wir vielleicht eine Ausnahme? Das ist ein reichlich unsystematischer Vorgang.
Noch immer sind rund 200.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Im Jahr 2016 wurden 25.000 Menschen abgeschoben, 54.000 reisten freiwillig aus. Sind Abschiebungen die richtige Lösung?
Dass, was die Regierung will, ist mit Abschiebungen nicht zu erreichen. 30 bis 40 Menschen nach Kabul zu fliegen alle drei Wochen, das führt zu nichts. Wie lange soll das dauern, bis alle abgeschoben sind? Bis dahin greift eine Altfallregelung, liegen familiäre Gründe für ein Aufenthaltsrecht vor oder Freunde und Arbeitgeber intervenieren bei ihren Abgeordneten. Das System steckt voller Haken und Ösen.
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